Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Unerschütterlich
Mesale Tolu möchte zurück nach Deutschland – Am 26. April wird ihr Prozess in Istanbul fortgeführt, der sich lange hinziehen könnte
Kurz vor dem nächsten Prozesstermin am kommenden Donnerstag ist die aus Ulm stammende Journalistin Mesale Tolu (Archivfoto: Susanne Güsten) optimistisch, dass die türkische Justiz ihr Ausreiseverbot aufhebt. Im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“prangert Tolu jedoch auch mit deutlichen Worten die Einschränkung der Meinungsfreiheit an. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte derweil in Ankara an, die für November 2019 geplanten Wahlen auf den 24. Juni diesen Jahres vorzuziehen.
ULM - Gut eine Woche vor dem nächsten Prozesstermin ist die aus Ulm stammende Journalistin Mesale Tolu (33) optimistisch, dass die türkische Justiz ihr Ausreiseverbot aufhebt. Tolu saß wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in einer Terrororganisation selbst siebeneinhalb Monate in Istanbul in Untersuchungshaft. Kurz vor Weihnachten kam sie frei. Im Gespräch mit Ludger Möllers klagt Tolu, die Türkei missbrauche den Terrorparagraphen, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.
Noch eine Woche dauert es bis zum nächsten Prozesstermin: Wie geht es Ihnen ganz persönlich?
Mir geht es ganz gut. Ob der Prozess in einer Woche ist oder nicht, ändert nichts an meiner Lage. Mir geht es schon seit Längerem gut, weil ich jetzt einfach die Freiheit sehr wertschätze.
Wie gestaltet sich Ihr Tagesablauf? Was tun Sie im Augenblick? Wie leben Sie? Wie arbeiten Sie?
Zuerst muss ich morgens meinen Sohn vorbereiten, weil er ab 11 Uhr in den Kindergarten geht. Bis 11 Uhr läuft das normale Familienleben: zusammen frühstücken, vorbereiten, ganz hektisch geht es zu, wie in jeder Familie. Im Anschluss bringe ich meinen Sohn in den Kindergarten. Dann fängt mein Alltag an. Falls ich etwas zu schreiben habe, etwa wenn ich einen Artikel verfassen muss, gehe ich wieder nach Hause und schreibe. Wenn es Interviews gibt und ich in einen anderen Stadtteil fahren muss, beginnt die Reise. Ich habe vier bis fünf Stunden Zeit, solange mein Sohn im Kindergarten ist. Diese vier bis fünf Stunden werden sehr hektisch ausgefüllt. Erst bei der Rückfahrt ist es dann wieder ruhiger. Dann hole ich meinen Sohn ab und der normale Alltag ist beendet, das Familienleben beginnt wieder.
Sie sind Journalistin und Übersetzerin. Für wen arbeiten Sie im Augenblick?
Im Augenblick arbeite ich unabhängig, also frei. Es gab verschiedene Anfragen von Zeitungen und Zeitschriften. Wenn Anfragen kommen, schreibe ich für diese Zeitungen oder versuche, mich selber zu sammeln, zu lesen und einfach ein bisschen in mich zu investieren.
Über welche Themen schreiben Sie?
Meistens über Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei. Das sind die Themen, die immer angesprochen werden. Ich selber interessiere mich natürlich auch für Frauenfragen. Das sind Themen, die mich vorher schon interessiert haben, die daher jetzt weiter in meinem Schwerpunkt sind.
Ihr Sohn Serkan ist dreieinhalb Jahre alt. Wie gehen Sie, Ihr Mann, Ihr Umfeld und Serkan selbst mit dieser Erfahrung um, dass er mit Ihnen im Gefängnis war?
Die Zeit im Gefängnis war nicht traumatisierend. Das war eine ganz eigentümliche Erfahrung für ihn, weil man einem Kind nicht erklären kann, warum die Türen abgeschlossen sind. Natürlich war diese Zeit schwer, aber nicht das eigentliche Traumatisierende.
Was hat Ihren Sohn beeindruckt?
Das, was meinen Sohn traumatisiert hat, war die Razzia. Die Polizisten sind mit Maschinengewehren in die Wohnung gekommen, sie waren die ganze Zeit über maskiert. Und die Zeit, die er von mir getrennt war, hat ihn geschockt. Er war 16 Tage von mir getrennt. Während ich sieben Tage in Polizeigewahrsam war und die ersten zehn Tage im Gefängnis, war er bei meiner Familie. Das war die Zeit, die ihn traumatisiert hat. Daher ist es immer noch so, dass er außer der Zeit, die er im Kindergarten verbringt, sich nicht mehr von mir trennt. Also vergeht keine Minute, keine Sekunde ohne mich: außer der Zeit, die er im Kindergarten ist.
Wie hat er sich denn im Kindergarten eingefunden?
Er ist jetzt ganz normal im Kindergarten, wie alle anderen kleinen Jungs auch.
Sie selbst sind in Istanbul unterwegs. Werden Sie erkannt oder angesprochen?
Nein, gar nicht. Es gibt sehr viele Journalisten, die inhaftiert sind, die in Polizeigewahrsam waren oder ebenfalls diese Repressionen gespürt haben. Es gibt zigtausende Menschen, die das erleben: Deswegen bin ich nicht bekannt.
Sie müssen sich jede Woche bei der Polizei melden?
Genau, ich muss mich jeden Montag bei der Polizeiwache in meinem Stadtteil melden.
Mesale Tolu
Zu Ihren Verbindungen nach Ulm: Sie sind in Ulm groß geworden, es gibt am Anna-Essinger-Gymnasium eine Community, die sich mit Ihnen solidarisiert hat. Wie erfahren Sie über diese Aktionen in Ulm?
Ich habe direkten Kontakt zu einer Lehrerin, die mir immer darüber berichtet, was ist oder was ansteht. Ich bin in Ulm geboren, ich bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mein ganzes Leben hat sich eigentlich in Ulm abgespielt. Nur zum Studium bin ich nach Frankfurt gezogen. Ansonsten verbindet mich natürlich alles mit Ulm, die letzte Zeit ebenfalls mit Neu-Ulm, weil ich dort ebenfalls gelebt habe. Aber ich bekomme natürlich sehr viel mit von der Solidarität aus Ulm, aus NeuUlm, direkt durch meine Lehrer, durch meine Schulfreunde, durch meine Familie.
Es gibt ja in Ulm und Neu-Ulm eine große türkische Gemeinschaft. Meldet die sich bei Ihnen?
In Ulm und Neu-Ulm habe ich natürlich sehr viele türkischstämmige Freunde, die sich mit mir solidarisieren und sehr viel für mich tun. Aber deutschlandweit gesehen, haben sich mehr deutsche Bürger, vor allem Frauen, mit mir solidarisiert, haben mit mir mitgefühlt, haben mir die ganze Zeit über geschrieben. Größtenteils sind es deutschsprachige Menschen, die mich unterstützt haben. Natürlich besonders aus Ulm und NeuUlm. Wenn man sich diese Region anschaut, habe ich natürlich dort meine Freunde, die ich seit meiner Kindheit kenne.
Was tun die Freunde für Sie ganz konkret?
Die Freunde aus Ulm und Neu-Ulm haben die Initiative „Freiheit für Mesale Tolu“gegründet und führen diese fort. Bis zum Prozess werden sie jeden Freitag weiterhin zur Solidaritätskundgebung einladen. Ansonsten gibt es natürlich Journalistenverbände, verschiedene Journalistenclubs, die über E-Mail oder Telefon mit mir kommunizieren und einfach ihre Solidarität aussprechen und mich unterstützen wollen. Alles andere wird eigentlich über das Fernsehen kommuniziert. Ich spüre natürlich die Solidarität. Ich werde immer gefragt, was man für mich tun kann.
Was kann man denn konkret für Sie tun?
Man kann generell, nicht nur für mich, sondern für alle Journalisten, die hier inhaftiert sind, weiterhin einfach die Öffentlichkeit beleben und dafür sorgen, dass die Menschen hier nicht in Vergessenheit geraten. Ich bin jetzt in Freiheit. Ich kann zwar nicht ausreisen, aber ich bin frei, ich kann mich frei bewegen. Und es gibt Menschen, die das nicht tun können. Deswegen ist es wichtig, weiterhin für diese Menschen einfach Öffentlichkeit zu schaffen.
Sie sind angeklagt wegen der angeblichen Unterstützung terroristischer Vereinigungen, genauso wie Ihr Mann. Der Prozess ist zusammengelegt worden. Sie sind Journalistin, Sie sind Deutsche: Wie geht das alles zusammen?
Generell ist es so, dass in der Türkei im Grunde alle Journalisten wegen Terrorpropaganda oder -mitgliedschaft angeklagt werden. Das ist nicht plausibel, aber es gibt einen einfachen Grund: Das Antiterrorgesetz ist das flexibelste Gesetz, das es in der Türkei gibt. Man kann sehr viel hineininterpretieren. Und deswegen nutzen die Staatsanwälte immer dieses Antiterrorgesetz, um jemanden zu verurteilen. Wenn jemand wegen Terrorpropaganda oder -mitgliedschaft angeklagt wird, ist es einfacher, die Person zu inhaftieren. Sonst müsste man direkt sagen: Ich inhaftiere dich wegen deiner Meinung. Wahrscheinlich würde die europäische Öffentlichkeit dagegen rebellieren, wenn der Staat die Meinungsfreiheit so direkt einschränken würde. Deswegen bedienen sich die Staatsanwälte einfach des Antiterrorgesetzes und beschuldigen im Grunde jeden, der sich in Wort oder Schrift kritisch äußert, der Terrormitgliedschaft oder -propaganda. Das kann man gut daran sehen, dass sehr viele bekannte Schriftsteller und Journalisten in der Türkei, verschiedene Organisationen, aber im Grunde alle beschuldigt werden, Terrorpropaganda betrieben zu haben.
Das heißt: Der Vorwurf der Terrorpropaganda ist ein Umweg?
Genau. Der Justizminister hat einmal gesagt: Es sind doch gar keine Journalisten inhaftiert, das sind alles Terroristen. Das sagt er aus einem ganz einfachen Grund: Weil die Personen nicht direkt wegen ihrer journalistischen Tätigkeiten angeklagt werden. So kann er sagen: Das sind alles Terroristen. Sonst müsste er ja zugeben, dass die Regierung, der Staat, Journalisten inhaftiert. Das ist ein Umweg, den die Justiz gerne geht. Das sieht die ganze europäische Öffentlichkeit. Es kann ja kein Zufall sein, dass so viele Menschen wegen Terrorpropaganda angeklagt sind.
Mesale Tolu
Wie sehen Sie denn persönlich Ihrem nächsten Prozesstag am 26. April zusammen mit Ihrem Ehemann entgegen?
Ich denke, es wird sehr routiniert ablaufen. In der Türkei ziehen sich die Prozesse sehr in die Länge. Es werden insgesamt 27 Personen angeklagt, jetzt, nachdem die Akten zusammengelegt werden. Ich denke, dass es kurz irgendwelche Routineprüfungen geben wird und dann der Prozess vertagt wird.
Sodass Sie mit einer kurzen Dauer dieses Verfahrenstages rechnen?
Ja. Ich denke, es wird nicht sehr lange dauern. Vielleicht wird meine Meldepflicht oder mein Ausreiseverbot aufgehoben. Wenn nicht, werde ich natürlich dagegen Klage einreichen, Widerspruch einlegen. Ich erwarte höchstens, dass vielleicht jetzt die Meldepflicht oder die Auflagen aufgehoben werden, aber ein Ende des Prozesses ist derzeit noch nicht in Sicht.
Rechnen Sie damit, dass Sie ausreisen dürfen am Ende des Tages?
Ich werde gegen das Ausreiseverbot Widerspruch einlegen. Wie es ausgehen wird, kann ich natürlich nicht sagen.
Haben Sie seit Ihrer Freilassung etwas von der Bundesregierung oder vom Botschafter gehört?
Ich stehe von Anfang an, sowohl als Inhaftierte und ebenso nach meiner Freilassung, mit der Botschaft in Kontakt. Der Botschafter oder die Konsulatmitarbeiter kümmern sich sehr um mein Wohl, auch um das meines Sohnes. Deswegen sind wir immer in Kontakt. Dieser Kontakt war immer schon vorhanden und besteht weiterhin.
Wenn Sie vorausblicken und optimistisch sind: Sehen Sie Ihr Leben in Zukunft in Ulm oder in der Türkei? Haben Sie sich da schon Gedanken gemacht?
„Das, was meinen Sohn traumatisiert hat, war die Razzia.“
Ich würde natürlich gerne wieder in Deutschland leben: Allein wegen der Tatsache, dass ich einen kleinen Sohn habe und will, dass er in Sicherheit lebt. Wenn ich optimistisch bin, wird sich mein Ausreiseverbot in den nächsten Prozesstagen vermutlich aufheben lassen. Wenn jetzt nicht am kommenden Prozesstag, dann vielleicht nach zwei weiteren Tagen. Dann kann ich vielleicht ausreisen und werde meine Zukunft in Deutschland gestalten.
„Ein Ende des Prozesses ist derzeit nicht in Sicht.“
Zur Not würden Sie ohne Ihren Mann ausreisen?
Ja, natürlich. Die Priorität liegt auf meinem Sohn. Das ist ebenfalls für meinen Mann wichtig: Dass es unserem Sohn gut geht. Deswegen würde ich auch ohne meinen Mann ausreisen.
Woher nehmen Sie die Kraft, um diese doch sehr schwierigen Monate zu bestehen?
Von allen Menschen, die mich die ganze Zeit über unterstützt haben. Ich wurde nie alleingelassen: Die mitgefangenen Frauen im Gefängnis haben mich unterstützt, ebenso die deutsche Öffentlichkeit. Ich muss sagen, dass ich sehr viel Unterstützung bekommen habe. So viel Post, wie ich bekommen habe, hat keine andere Frau aus meiner Gemeinschaftszelle bekommen. Natürlich hat sowohl mich wie auch die anderen Frauen glücklich gemacht, zu sehen, dass eine junge Journalistin so viel Unterstützung bekommt. Das hat mir die ganze Zeit über sehr viel Kraft gegeben. Und jetzt sehe ich immer noch, dass das Interesse da ist: Dass die Menschen sich um mich und meinen Sohn kümmern, sich über unser Wohlbefinden informieren wollen. Das gibt mir viel Kraft, weil ich mich dann bestätigt fühle, richtig gute Arbeit geleistet zu haben: Sonst würden sie mich nicht unterstützen.