Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Chronologie des Scheiterns
Am Ende kommt es dann immer ganz dicke. Beschimpfungen, Pöbeleien. Nach dem WM-Vorrunden-K.o. durch das 0:2 gegen Südkorea ist Mesut Özil von einem deutschen Fan auf dem Weg in die Stadion-Katakomben der Arena in Kasan beschimpft worden. Özil hatte sein Trikot in Richtung Tribüne geworfen, daraufhin kam es zu einem Wortgefecht mit dem deutschen Anhänger. „Ein Fan hat ihn beschimpft. Deshalb habe ich Mesut sofort von dort weggezogen“, sagte Andreas Köpke der „Bild“. Der Bundestorwarttrainer rief dem Fan zu, er solle „den Schnabel halten“.
Alles entschuldbar. Wenn der Frust hochkommt, gehen eben die Gäule durch. Solche Kleinigkeiten werden untergehen im Kontext des historisch einmaligen Scheiterns der Nationalelf nach der WM-Vorrunde. Doch wie kam es dazu? Eine Chronologie des (angekündigten) Versagens:
Herbst/Frühjahr 2017/18: Nach einer makellosen WM-Qualifikation (zehn Siege in zehn Spielen, allerdings gegen Nordirland, Tschechien, Norwegen, Aserbaidschan und San Marino) gelingt der Mannschaft in vier Testspielen gegen veritable Gegner kein Sieg (0:0 in England, 2:2 gegen Frankreich, 1:1 gegen Spanien, 0:1 gegen Brasilien). „Unser letztes überzeugendes Spiel war im Herbst 2017“, meinte Mats Hummels in Kasan. Nach der Niederlage gegen Brasilien hatte Toni Kroos scharfe Kritik an der Einstellung einzelner Mitspieler geübt. Seine Warnung verpufft.
13. Mai: Mesut Özil und Ilkay Gündogan treffen den umstrittenen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in London. Die Erdogan-Affäre wird zum nervigen Dauerthema. Der DFB schafft es nicht, die Debatte elegant zu moderieren, zu ersticken. Auch in der Mannschaft sorgt die Aktion für Unmut.
2. Juni: Manuel Neuer gibt nach achtmonatiger Verletzungspause beim Test-Länderspiel in Klagenfurt ein gelungenes Comeback. Doch das 1:2 wird zum Stimmungsdämpfer, der nächste Warnschuss wird allerdings ignoriert.
4. Juni: Überraschung bei der endgültigen Kadernominierung: Löw verzichtet auf Flügelstürmer Leroy Sané von Manchester United. Auch der erstmals fürs Trainingslager eingeladene Stürmer Nils Petersen darf nicht mit nach Russland.
8. Juni: Einen Tag nach Ende des Trainingslagers in Südtirol liefert die DFB-Auswahl beim 2:1 gegen Saudi-Arabien in Leverkusen eine dürftige WM-Generalprobe ab. Der nächste Warnschuss, wieder verpufft er. Löw sagt, er mache sich „keine Sorgen“. Man werde, wenn es dann losgeht und ernst wird, schon auf den Punkt fit und bereit sein. Ein Trugschluss. Die Partie wird von Pfiffen gegen Gündogan überschattet. Die Spieler stellen sich hinter die beiden.
12. Juni: Abreise von Frankfurt ins WMQuartier nach Watutinki vor den Toren Moskaus. Für Löw, der lieber wie beim Confed-Cup 2017 an die Strandpromenade von Sotschi wollte, hat das Hotel „den Charme einer guten Sportschule“. Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff plädierte wegen logistischer Argumente für die Ruhe der Birkenwälder von Watutinki. Ebenfalls ein Dauerthema, das die Konzentration störte.
17. Juni: Der Titelverteidiger startet erschreckend schwach, 0:1-Pleite gegen Mexiko in Moskau. Die Niederlage hätte höher ausfallen können, Mexiko nutzt seine Konterchancen nicht. Die DFB-Spieler bemängeln, sie seien von der mexikanischen Spielweise überrascht worden. Die Weltmeister von 2014, Leistungsträger wie Khedira, Özil, Müller und Hummels wirken schwerfällig, über dem Leistungszenit. Hummels kritisiert, dass die Abwehr „alleine gelassen“wurde. Unmut im Team kommt auf, eine Aussprache folgt.
23. Juni: Gegen Schweden steht man in Sotschi bereits vor dem Aus. Marco Reus und Toni Kroos mit einem sehenswerten Freistoß in letzter Minute drehen das Spiel – 2:1. Der Weltmeister springt nochmal von der Schippe. DFB-Mitarbeiter provozieren im Jubel-Affekt die schwedische Bank, müssen sich entschuldigen. Kroos attackiert die Kritiker in der Heimat: „Man hatte das Gefühl, relativ viele Leute in Deutschland hätte es gefreut, wenn wir rausgegangen wären. Aber so leicht machen wir es ihnen nicht.“
27. Juni: Sie machen es den Fans leicht.
0:2 gegen Südkorea, das Aus, das Ende. „Peinlich“, so Müller, Neuer findet's „erbärmlich“.
Erstmals gelungene Selbsteinschätzungen. (Patrick Strasser)