Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Minenarbeiter des Grauens
Der große Filmemacher Claude Lanzmann ist tot
PARIS - Was für ein Einfall! Ein Friseur in New York schneidet seinen Kunden die Haare. Währenddessen erzählt er die schrecklichsten Dinge – denn der Friseur war 30 Jahre zuvor Häftling in einem deutschen Konzentrationslager. Dies ist eine der vielen Szenen aus „Shoah“, die man nie wieder vergisst. Und ein typischer Einfall von Claude Lanzmann. Keiner vermochte wie er, Menschen dazu zu bringen, dass sie erzählten, was sie nie wieder erzählen wollten. Claude Lanzmann ist im Alter von 92 Jahren in Paris gestorben.
„Shoah“, Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm über die Ermordung der europäischen Juden, wurde nach 1985 zum Meilenstein der Erinnerungskultur. Der Regisseur fand Wege, die Überlebenden zum Reden zu bringen. Sie sprachen über das Unaussprechliche. Wie ein Minenarbeiter des Grauens förderte er tief Verborgenes zutage.
Es ist das Paradox dieses Films, dass er nicht vom Überleben erzählen will. Das wäre obszön angesichts der Millionen, die nicht überlebt haben. Und doch braucht er die Überlebenden, um dem Morden und Sterben und den Toten eine Stimme zu geben.
Lanzmann war an nichts so sehr gelegen wie an der Verteidigung der Bilder gegen ihren Selbstverrat und gegen ihre Abnutzung. Er hasste das Kino, das fortwährend kommentierte, das Zitate von Augenzeugen aneinanderreihte, um bestimmte Themen „abzuhaken“. Er ließ seine Augenzeugen aussprechen und bot so dem Ungeheuerlichen Raum.
Zugleich misstraute er dem plumpen Realismus des „genau so ist es gewesen“. Oder Originalaufnahmen, schon weil diese im Fall der Lager ja von den Tätern stammen mussten. Dafür glaubte Lanzmann an die Worte, und an die Dauer. Er konnte der Zeit Zeit lassen.
Freund Sartres und Beauvoirs
Wer dem großen breitschultrigen Mann mit der tiefen Stimme und der stolzen, auf den ersten Blick etwas unnahbaren Art begegnete, hätte es nicht sofort geglaubt, aber Lanzmann war ein überaus feinfühliger und ein demütiger Mensch.
Er hat alles gemacht, was ein Mensch seiner Generation machen konnte: Mit 16 Jahren kämpfte der 1925 geborene jüdische Franzose in der Resistance gegen die deutsche Besatzung. Dann lebte er gute zwei Jahre als Soldat in Deutschland, lernte die Sprache und studierte deutsche Philosophen. Er traf in Heidelberg den Nazi-Gegner Karl Jaspers, bevor er in das Paris der Existenzialisten eintauchte. Der 20 Jahre ältere Jean-Paul Sartre war nicht nur Vorbild und Mentor, er wurde ein Freund und Weggefährte, und einige Jahre lang war Lanzmann, ein verführerischer „Homme á Femmes“, auch der Liebhaber von Sartres Lebensgefährtin Simone de Beauvoir.
Später wurde er Journalist. Erst eine Israelreise, die er mit über 40 Jahren unternahm, wurde für ihn zum Erweckungserlebnis: Da besann er sich auf sein Jüdischsein und begann zwölf Jahre lang für „Shoah“zu recherchieren.
Am Ende seines Lebens wurde Lanzmann mit seiner Autobiografie „Der patagonische Hase“noch ein Bestsellerautor, drehte weiter Filme: Sein letzter, „Napalm“, eine autobiografische Erzählung über seinen Nordkoreabesuch Mitte der 1950erJahre, lief erst letztes Jahr in Cannes. Seine übrigen Filme waren Fußnoten, Epiloge und Ergänzungen zu dem Meilenstein „Shoah“.
Vielleicht sein persönlichster Film ist „Sobibor“, in dem er den extremen Ausnahmefall im großen Morden erzählt: Den geglückten Aufstand der Häftlinge eines Vernichtungslagers, die Flucht und das Überleben – in „Shoah“wäre das fehl am Platz gewesen.
Hier aber ging es wie schon in seinem allerersten Film über Israel um wehrhafte Menschen, um Widerstand, auch gegen das Absurde und Unmögliche. Es ist das Handeln, das Lanzmann immer thematisiert hat. Im Interesse für diese existenziellen Augenblicke, in denen sich ein Leben entscheidet, entpuppt sich Claude Lanzmann als Erbe der Philosophie seines Lehrers Jean-Paul Sartre.