Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Interrail und Autostopp
Teil 2: Reisen in den 1980er- und 1990er-Jahren
BERLIN (dpa) - Die 1980er- und
1990er-Jahre waren die letzte Epoche der Unerreichbarkeit. Die große Schwester war über Wochen weg, mit dem Freund, per Anhalter und Interrail in Südfrankreich. Oder war es Spanien oder Italien? So genau wusste es die Familie nicht. „Ruft mal an“, gab die Mutter der Schwester mit. Das passierte. Aber nur alle paar Wochen mal. Dass am Strand von Nizza plötzlich das ganze Geld weg war, dass sie bei schmierigen Typen im Auto mitgefahren waren, das mussten eh nicht gleich alle wissen.
Mit dem Interrail-Bahnticket und dem Daumen quer durch Europa reisen: Beides war in den 1980er- und
1990er-Jahren ein Massenphänomen. Fernreisen waren noch nicht das Standard-Programm im Jahr nach dem Abitur. Es war die letzte Epoche der Unerreichbarkeit. Wie haben es die Eltern damals ausgehalten ohne tägliche WhatsApp-Nachrichten? Wie ist man um die Welt gereist ohne Internet? Es funktionierte.
Methode „Daumen raus“
Bilder von früher strahlen eine große Sorglosigkeit aus. In Pulks standen die Anhalter am Berliner DDRGrenzübergang Dreilinden, mit selbst gemalten Pappschildern. „München“oder „Stuttgart“stand darauf, es ging erst mal Richtung Süden. Die Methode „Daumen raus“war im Westen wie im Osten verbreitet. Doch reisen konnte man in der DDR nur begrenzt. Im Jahr 1989 verbrachten die meisten in der DDR ihren Urlaub an der Ostsee. Auch Osteuropa war nach wie vor beliebt. Es war der historische Wendesommer: Tausende nutzten ihren Ungarn-Urlaub zur Flucht. Im April 1990 hob die erste Maschine der DDR-Fluggesellschaft Interflug nach Mallorca ab.
Per Bahn durch Europa
Helmut Kohl, Bundeskanzler von
1982 bis 1998, urlaubte gerne am Wolfgangsee. Das war typisch alte BRD. Bis in die 1980er-Jahre war Österreich das beliebteste Auslandsreiseziel, abgelöst von Italien und Spanien. Die Bundesbürger wurden experimentierfreudiger. Ende der
1980er-Jahre wollte nur noch ein Viertel der Pauschalurlauber eine Vollpension haben, zu Beginn der
1970er-Jahre war es noch die Hälfte. Kochen in der eigenen Ferienwohnung wurde beliebter. Zucchini, Knoblauch und Olivenöl lernten die Deutschen im Urlaub kennen.
Auf einer Interrail-Tour ernährten sich die Leute von Baguette, Käse und billigem Rotwein. Das Ticket kam 1972 auf den Markt und kostete
235 Mark. Für viele Jugendliche öffnete sich ein Tor zur Welt: London, Paris und Rom waren auf einmal gut erreichbar. Interrail war auch ein Schritt zum Erwachsenwerden: Fuhr man noch mit den Eltern nach Amrum oder war man schon alt genug für die Kifferläden in Amsterdam?