Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Raus aus der Pendlerhölle
Tokio startet eine Kampagne gegen die chronisch überfüllten Züge
- Die Rushhour ist ein Alptraum. Zehntausende kämpfen sich in überfüllten Bahnhöfen zu ihren Zügen, werden dort von uniformierten Männern mit weißen Handschuhen zusammengepresst, gescho ben und geschubst. Die unglücklichen Ausländer, die zur Hauptverkehrszeit in der Megametropole mit der Bahn fahren mussten, werden diese Erfahrung nie vergessen und fragen sich verstört, wie man das jeden Tag aushalten kann. Der Berufsverkehr in Tokio ist einmalig und eigentlich unvorstellbar. Japaner nennen diesen Horror die „Pendlerhölle“.
Meist klaglos, aber sichtlich angeödet ertragen Millionen Japaner jeden Tag die Stoßzeiten in den innerstädtischen Bahnen der Megametropolen, leiden an Platz- und Sauerstoffmangel. An besonders überfüllten Haltestellen sind diese erwähnten „Oshiya“– sogenannte Drücker – am Werk, die Passagiere tatsächlich mit Macht hineinschieben, damit sich die Türen schließen lassen und die Züge schnell wieder abfahren können.
Besonders schlimm ist es zwischen acht und neun Uhr am Morgen. In dieser Zeit liegt die Überlastungsrate auf den meisten innerstädtischen Linien bei 150 Prozent, bei den stark frequentierten Strecken erreicht sie sogar 200 Prozent. Besonders im schwülheißen Sommer ist die Anfahrt zur Arbeit eine Qual, erreichen Nippons Töchter und Söhne ihren Arbeitsplatz nur abgekämpft, ermattet und erledigt.
Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. Auch die Ursache, dass die Arbeit in den meisten Firmen und Büros zur gleichen Zeit beginnt. Schon lange wird diskutiert, wie sich die Lage wenigstens etwas entspannen könnte. Mit der Kampagne „Jisa Biz“will Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike nun die notorische Überfüllung an Bahnhöfen und in Zügen während der Stoßzeiten endlich spürbar reduzieren. „Jisa“bedeutet Zeitunterschied, „Biz“steht für Business. Im Klartext geht es um flexiblere Arbeitszeiten. Mehr als 700 Unternehmen und Kommunen nahmen an dem „Experiment bequemeres Pendeln“teil, das Mitte Juli begann.
Man möchte Angestellte und Arbeiter vor allem dazu bewegen, früher in Betriebe und Büros zu fahren. Die Bahnbetreiber wollen dazu die Zahl der Züge in den frühen Morgenstunden zwischen fünf und acht Uhr erhöhen. In den Stoßzeiten sind die Kapazitäten ausgereizt, ist die Belastungsgrenze der Gleise und Bahnhöfe schon erreicht. Gleichzeitig informiert eine neue App die Pendler über die aktuelle Belegung der Züge und über besondere Stausituationen an Bahnhöfen. Extra Frühpendler sollen mit Gutscheinen für Restaurants und Läden belohnt werden. Auch einige Firmen wollen ihren Frühstartern ein kostenloses Frühstück anbieten.
„Jisa Biz 2018“ist bereits der zweite Anlauf, das chronische Pendlerproblem in den Griff zu bekommen. Im Sommer vergangenen Jahres hatten 320 Tokioter Firmen ihre Angestellten zu gestaffelten Arbeitszeiten animiert oder ihnen Heimarbeit angeboten. Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen. Die neue Idee mit dem frühen Arbeitsbeginn hat nämlich ebenfalls erhebliche Tücken.
Bei den oft sehr langen Anfahrtswegen von den Wohnungen in den Tokioter Vororten müssten Zehntausende Japaner ihren Tag extrem zeitig starten. Und dann stellt sich für viele die Frage: Dürfen die Angestellten, die früher anfangen, ihren Arbeitsplatz auch früher verlassen? Im „Land der Überstunden“gibt es da erhebliche Zweifel. Immerhin hat Tokios aktionsfreudige Gouverneurin auch dafür eine Kampagne bereit. Sie heißt „Abendaktivität“und meint ausdrücklich Freizeit nach Feierabend. Allerdings sollen die Büros im Regierungsviertel erst um 20 Uhr schließen. Also auch schwierig.