Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
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Der Fall Kücük lässt hilflose Hinterbliebene zurück.
- Der Vater der Getöteten sitzt regungslos im antibakteriell wirkenden Besprechungszimmer des Ravensburger Rechtsanwalts Klaus-Martin Rogg. Der weiße Tisch blendet fast im künstlichen Licht, während draußen die Sonne so lebendig um das Gebäude glitzert, dass die Versammlung drinnen umso trauriger wirkt. Das Gesicht des Vaters mit der schmalen Brille sieht aus, als sei es ein Gipsabdruck seiner selbst: unbewegt, blass. Links neben ihm sitzt Erkan Kücük, sein Schwiegersohn und damit jener Mann, den der tödliche Unfall vom 15. Juni 2017 bei Hochdorf, unweit von Biberach, zum Witwer gemacht und seiner selbstständigen beruflichen Existenz beraubt hat. Weitere Angehörige sitzen im Raum.
Der Anwalt versucht die juristische Sachlage des Falles so zu formulieren, dass auch der Laie begreift, warum es für den Tod der 26-jährigen Ehefrau keine Genugtuung mehr in einem deutschen Gerichtssaal geben wird. Warum die Bemühungen der Hinterbliebenen und ihrer Anwälte an diesem schwülheißen Tag in dem stickigen Konferenzraum zu Ende gehen. „Egal, wie weh das auch tun mag“, sagt Rogg, dem der Schweiß auf die Stirn tritt und dessen Stimme stellenweise dröhnt, „im Zweifel für den Angeklagten“. Und es spiele für die unterbliebene strafrechtliche Aufarbeitung auch keine Rolle, dass sich der Unfallverursacher, ein 58-Jähriger aus RheinlandPfalz, bis heute nicht zu einem einzigen Wort oder Zeichen des Bedauerns herabgelassen habe. „Nichts, nada“, schimpft Klaus-Martin Rogg. Aber fehlender Anstand und der Mangel an Mitgefühl jenen Menschen gegenüber, die ihre Frau, ihre Tochter, ihre Schwester, ihre Cousine oder Freundin verloren haben, ist keine Straftat.
Ein schwarzer Donnerstag
Was war passiert? Am Fronleichnamstag 2017, es ist ein sonniger Donnerstag, geschieht auf der B 30 um 11.46 Uhr das Unglück: Erkan Kücük und seine Frau fahren in Richtung Bad Waldsee. Unter einer Brücke bei Hochdorf schert der Unfallverursacher in seinem weißen BMW unvermittelt auf die Gegenspur aus. Kücük hat keine Chance auszuweichen. Es kommt zum Frontalzusammenstoß. Seine Frau stirbt an ihren inneren Verletzungen, Kücük selbst wird ebenfalls erheblich verletzt. Bis heute hat der inzwischen 27-Jährige Schmerzen im linken Arm, ist in seiner Beweglichkeit eingeschränkt – von der psychischen Last gar nicht zu reden.
Aus Sicht von Klaus-Martin Rogg passieren am Tag des Unfalls schwerwiegende Fehler, die am Ende dazu führen, dass es das Geheimnis des BMW-Fahrers bleiben wird, warum er die Spur so plötzlich wechselte. „Ich kann es fast nicht glauben – aber dem Unfallverursacher ist nicht mal Blut abgenommen worden.“Dabei hat er laut Protokoll dem Ersthelfer, der ihm aus dem schrottreifen Wagen herausgeholfen hat, gesagt, er habe sich schon den ganzen Tag über nicht wohlgefühlt. Warum – darüber hätte eine Blutentnahme womöglich Aufschluss geben können. Medikamente? Alkohol? Vielleicht Drogen? „Das weiß niemand – und jetzt erfahren wir es nie“, ruft Rogg frustriert in die Runde am Konferenztisch.
Dieser Punkt ist entscheidend, um zu verstehen, was in den Monaten nach dem Unfall geschehen oder eben nicht geschehen ist. An der Tatsache, dass der Unfallverursacher durch seinen Spurwechsel die Katastrophe ausgelöst hat, gibt es von Anfang an keinen Zweifel. „Das ist auch der Grund, warum die Staatsanwaltschaft damals kein Unfallgutachten in Auftrag gegeben hat“, sagt Rechtsanwalt Rogg. Dass der Unfallverursacher aber nicht medizinisch begutachtet worden ist, wenn er schon angibt, dass er sich den ganzen Tag über nicht wohlgefühlt hat, kann Rogg nicht begreifen. Diesen Punkt hat er – nachdem die Staatsanwaltschaft Ravensburg das Verfahren gegen den RheinlandPfälzer wegen fahrlässiger Tötung eingestellt hatte – in seinen Beschwerdebriefen, Anträgen und Einlassungen, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegen, mehrfach betont.
Ungeachtet dessen: Heute ist es nicht mehr möglich, die Frage nach dem damaligen Gesundheitszustand des Fahrers zu beantworten. Ausgerechnet dieses Versäumnis – „ganz klar das eklatante Versagen der Polizei“, wie Rogg betont – macht die Entscheidung der Staatsanwaltschaft leichter nachvollziehbar, das Verfahren einzustellen. Denn wie soll ein Staatsanwalt vor einem Richter dem Angeklagten nachweisen, dass es fahrlässig gewesen ist, sich hinters Steuer zu setzen, wenn die Ursache für das Unwohlsein im Dunkeln bleibt? Und damit die Frage, ob der Fahrer in seinem Zustand hätte erkennen können oder gar müssen, dass seine Beeinträchtigung so schwer wiegt, dass die Fortsetzung der Fahrt fahrlässig war – und damit strafwürdig.
Klageerzwingung zu riskant
„Wenn ich solche Fehler wie die Polizei machen würde, dann schmeißt mich mein Chef raus“, bellt der Bruder der Getöteten unvermittelt in den Besprechungsraum, sodass Rogg zusammenzuckt. „Das mag schon sein. Aber es ändert nichts an der Sache.“Er könne es nicht verantworten, ein Klageerzwingungsverfahren auf den Weg zu bringen, das am Ende nur viel Geld kostet „bei denkbar schlechten Chancen“. Zumal der Antrag auf Klageerzwingung in gleicher Sache – allerdings von Erkan Kücüks Anwältin – am Oberlandesgericht bereits gescheitert ist. Dass Rogg, der die Eltern des Unfallopfers vertritt, damit mehr Erfolg hätte, glaubt er nicht. Der Jurist betont mehrfach, dass er es nicht verantworten könne, ohne die Rückendeckung einer Rechtsschutzversicherung in das Risiko eines solchen Verfahrens zu gehen, an dessen
Erfolg er selbst nicht glaubt. „Angenommen, wir setzen eine Klageerzwingung durch, fallen dann jede Menge Gutachterkosten an, und der Richter spricht den Unfallverursacher trotzdem frei, weil ihm seine Schuld aufgrund der Fehler bei der Unfallaufnahme nicht nachgewiesen werden kann. Dann sitzen Sie auf enormen Kosten.“Da seien schnell 50 000 Euro oder mehr denkbar.
Das zuständige Polizeipräsidium Ulm teilt auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“schriftlich mit: „Die Unfallsachbearbeiter des Verkehrskommissariats Laupheim haben aus unserer Sicht alle gebotenen und rechtlich zulässigen Beweiserhebungen durchgeführt und hierbei auch geprüft, ob die Voraussetzungen für die Durchführung einer Blutentnahme vorliegen. Die erfahrenen Beamten haben bei der Unfallaufnahme keine Anhaltspunkte für eine alkohol-, drogen- oder medikamentenbedingte Fahruntüchtigkeit festgestellt. Zeugen, die dem Unfallverursacher über eine längere Strecke hinterhergefahren waren, schilderten seine Fahrweise als unauffällig und sicher. Das plötzliche Abkommen auf die Gegenspur spricht für einen Kontrollverlust aufgrund eines unvermittelt aufgetretenen gesundheitsbedingten Blackouts.“Auch den Zeugen, der den Unfallverursacher aus dem Wagen geborgen und ihn sagen hören hat, dass er sich bereits den ganzen Tag schon nicht wohlgefühlt habe, erwähnt die Polizei nicht.
Auf die Nachfrage, wie oft es vorkommt, dass Verursacher von Unfällen mit tödlichem Ausgang weder medizinisch oder auch nur auf Drogen, Alkohol oder Medikamente untersucht werden und ob es kein standardisiertes Verfahren für solche Fälle gibt, schreibt das Polizeipräsidium: „Bei der Bearbeitung von schweren Verkehrsunfällen gibt es Handlungsanleitungen und festgelegte
„Ein Kontrollverlust aufgrund eines gesundheitsbedingten Blackouts.“
Vermutung des Polizeipräsidiums Ulm zum Unfallhergang
Standardmaßnahmen. Die Prüfung auf eine mögliche Alkohol- oder Drogenbeeinflussung gehört dazu. Ergeben sich Verdachtsmomente, wird die Blutuntersuchung entsprechend veranlasst. Ergeben sich keine Anhaltspunkte für einen Anfangsverdacht, scheidet die Durchführung einer Blutentnahme aus.“Ferner gibt das Polizeipräsidium an, dass im vergangenen Jahr in ihrem Zuständigkeitsbereich 36 Menschen bei Verkehrsunfällen gestorben sind. Einer dieser Menschen war Erkan Kücüks Frau. In wie vielen dieser Fälle die Unfallverursacher begutachtet oder auch nur mit einer Blutentnahme konfrontiert wurden, teilt die Polizei trotz der ursprünglichen Nachfrage nicht mit.
Natürlich kann kein Gericht der Welt Erkan Kücük die Frau wieder zurückgeben. Dem Vater nicht seine Tochter. Dem Bruder nicht die Schwester. Der Mutter nicht ihr Kind. Und trotzdem sitzen die Hinterbliebenen der jungen Frau am Ende der Unterredung in der Anwaltskanzlei mit dem hilflosen Gefühl, dass Polizei und Staatsanwaltschaft mehr hätten machen müssen. „Es ist vorbei“, sagt Rogg, kurz bevor die Männer schweigend den Konferenzraum verlassen.
Ein Video-Interview mit Erkan Kücük sehen Sie unter http:// www.schwäbische.de/kuecuek
„Egal, wie weh das auch tun mag: im Zweifel für den Angeklagten.“
Klaus-Martin Rogg, Rechtsanwalt aus Ravensburg