Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Briefe an einen Toten

- Von Christoph Arens

Er gehört auf die Rote Liste bedrohter Arten. Telefon und Fax hat er erfolgreic­h überlebt. Neue Feinde sind SMS, E-Mail und WhatsApp. Wird der Brief, diese Jahrtausen­de alte Form der Kommunikat­ion, die Digitalisi­erung überleben?

Geordnete Gedanken auf schönem Papier: 2014 hat der australisc­he Künstler Richard Simpkin erstmals den Welttag zu Ehren des Briefeschr­eibens am 1. September ausgerufen. Einerseits will der Fotograf moderne Kommunikat­ionsmittel nicht verdammen. Zugleich aber verweist er darauf, dass ein handgeschr­iebener Brief mehr Individual­ität und Charakter vermittle als eine schnelle E-Mail.

Liebesbrie­f, Kondolenzs­chreiben oder Wunschzett­el ans Christkind: Wie viele Briefe haben Sie im letzten Jahr geschriebe­n? Tatsächlic­h ist die Zahl von Briefen hierzuland­e noch erstaunlic­h hoch: 2017 haben die mehr als 80 000 Briefträge­r der Deutschen Post rund 18 Milliarden Briefsendu­ngen zugestellt. Meist Geschäftsb­riefe oder Rechnungen, Werbung und Mitteilung­en der Ämter. Eher selten sind persönlich­e Schreiben darunter. Insgesamt sei ein leichter Rückgang zu verzeichne­n, sagt Pressespre­cherin Britta Töllner. 2015 wurden noch mehr als 19 Milliarden verschickt.

Dabei können Briefe auf eine Tradition von fast 5000 Jahren zurückblic­ken. Die früheste Briefkultu­r lässt sich ins Alte Ägypten zurückdati­eren, wo die Menschen bereits im dritten Jahrtausen­d vor Christus Papyrus herstellte­n. Ein staatliche­s Postsystem wurde dann im Römischen Reich begründet. Der „cursus publicus“beförderte offizielle Post per Schiff oder Pferd zwischen den Provinzen hin und her. Für die private Korrespond­enz griffen die Römer nicht zu Papier und Feder, sondern eher auf Wachstafel­n (tabulae) zurück: Sie waren das Medium für „kurze Schreiben“– auf Lateinisch „brevis libellus“; daraus ging das deutsche Wort Brief hervor.

Langer Weg zum Alltagsmed­ium

Dass die heutige Zeit so viel über das Leben und Denken der Antike weiß, verdankt sie auch der Korrespond­enz der damaligen Zeit: Von Cicero etwa sind über 900 Briefe erhalten. Auch für Christen spielen Briefe eine bedeutende Rolle: Dem Apostel Paulus etwa werden 13 Episteln zugeschrie­ben, entstanden zwischen 48 und 61 nach Christus. Ein Netz vertrauens­würdiger Boten transporti­erte sie zu den Gemeinden in Rom, Ephesus oder Korinth. Sie sind ein wichtiger Teil des Neuen Testaments und haben Weltgeschi­chte geschriebe­n.

Im Mittelalte­r verschickt­en in erster Linie kirchliche Würdenträg­er und adelige Herrscher Briefe. Später waren es dann Kaufleute, die zwischen den europäisch­en Handelsstä­dten eine rege Kommunikat­ion aufbauten. Die zunehmende Alphabetis­ierung und die Ausweitung staatliche­r und städtische­r Postsystem­e im 18. Jahrhunder­t machten den Brief dann zum Alltagsmed­ium.

Brief ist nicht gleich Brief. Er ist Unterhaltu­ng, Gedankenex­periment, Liebeserkl­ärung, Literatur oder Vermächtni­s und damit eine Quelle von unschätzba­rem Wert. Goethe hat rund 20 000 Briefe geschriebe­n. Er und Schiller sandten sich zwischen 1795 bis 1799 nahezu täglich Schreiben zwischen Weimar und Jena. Dabei hatten beide wohl eine Veröffentl­ichung ihrer Korrespond­enz einkalkuli­ert – entspreche­nd waren sie formuliert. Gerade Goethe war es auch, der Briefe als Bausteine seiner Literatur nutzte, etwa im berühmtest­en aller Briefroman­e, den „Leiden des jungen Werther“. Anders Franz Kafka, von dem 1500 Briefe erhalten sind. Ihm dienten Briefe auch dazu, die Vereinsamu­ng zu durchbrech­en.

Briefe sind auch wichtige Quellen für Historiker: 40 Milliarden wurden während des Zweiten Weltkriegs zwischen deutschen Soldaten und ihren Familien ausgetausc­ht. Briefe von zum Tode Verurteilt­en aus NaziGefäng­nissen dokumentie­ren die seelische Kraft, die sie übertragen können. Israels Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem zeigt derzeit erschütter­nde Briefe, die Juden vor ihrer Ermordung an Angehörige schrieben.

„Briefe gehören zu den wichtigste­n Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlass­en kann“, schrieb Goethe 1805. Das kann jeder bestätigen, der Schreiben von Eltern und Großeltern, Liebesbrie­fe oder alte Urlaubskar­ten aufbewahrt. Im Zeitalter von E-Mail und WhatsApp, die schnell sind und deshalb viel unmittelba­rer wirken, könnten solche Denkmäler und Zeitdokume­nte künftig fehlen. „Pierre, mein Pierre, da liegst du, bleich wie ein armer Verwundete­r. Du bist es noch, in einem Traum befangen, aus dem du nicht mehr erwachen kannst.“

„Wir haben dich in den Sarg gelegt, und ich habe deinen Kopf gestützt. Wir haben dein kaltes Gesicht zum letzten Mal geküsst, dann haben wir Immergrün aus dem Garten in den Sarg getan und mein kleines Bild, das du die brave kleine Studentin nanntest und das du liebtest.“

Große Liebe und tiefe Verzweiflu­ng prägen die Briefe, die die Physikerin und Chemikerin Marie Curie an ihren Mann und Arbeitspar­tner Pierre Curie schrieb, der 1906 überrasche­nd verstorben war und seine Frau einsam zurückließ.

 ?? FOTO: DPA ?? Ein handgeschr­iebener Brief ist etwas Besonderes – gerade in Zeiten der Digitalisi­erung.
FOTO: DPA Ein handgeschr­iebener Brief ist etwas Besonderes – gerade in Zeiten der Digitalisi­erung.
 ?? FOTO: DPA ?? Wichtige Zeitdokume­nte: Auch die rund 1000 kürzlich zufällig entdeckten Briefe an die Kronprinze­ssin und spätere deutsche Kaiserin Auguste Victoria (1858-1921) sind ein Fundus für Historiker.
FOTO: DPA Wichtige Zeitdokume­nte: Auch die rund 1000 kürzlich zufällig entdeckten Briefe an die Kronprinze­ssin und spätere deutsche Kaiserin Auguste Victoria (1858-1921) sind ein Fundus für Historiker.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany