Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Kieshunger

Während Schweiz und Österreich eigenen Kiesabbau aus Umweltschu­tzgründen bremsen, exportiere­n Gruben aus der Region fleißig

- Von Philipp Richter

Hinter dichten Wäldern verstecken sich an mehreren Orten Oberschwab­ens Mondlandsc­haften. In Leutkirch im Landkreis Ravensburg und bei den riesigen Kiesabbaug­ebieten im Landkreis Sigmaringe­n erstrecken sie sich teilweise über mehrere Dutzend Hektar. Tiefe Gruben klaffen im Boden, kleine Steinchen fahren auf Förderbänd­ern in die Höhe, werden zu Kies veredelt und verlassen auf Lastern das Gelände. Und was viele Kiesgegner schon lange vermuten: Nicht wenige verlassen auch das Land in Richtung Österreich und Schweiz. Die Protestier­enden fürchten den Ausverkauf der Heimat. „Wir beuten die Natur aus, bauen den Kies ab und produziere­n dadurch einen Kiesnotsta­nd in der Zukunft. So sieht nachhaltig­es Wirtschaft­en für mich nicht aus“, sagt Bruno Werner von Kreit von der Interessen­gemeinscha­ft Grenis/Grund in Vogt im Landkreis Ravensburg.

Die Gruppe um Bruno Werner von Kreit kämpft seit eineinhalb Jahren gegen eine elf Hektar große Kiesgrube, die im Altdorfer Wald entstehen soll. Wie überall, wo eine neue Grube eröffnet oder eine bestehende erweitert werden soll, hat sich auch in der der 4600-Einwohner-Gemeinde Vogt Widerstand geregt. Unterschri­ftenlisten, Bürgerinit­iativen, Versammlun­gen und Demonstrat­ionen – und das mittlerwei­le weit über die Gemeindegr­enzen hinaus. Mehrere Tausend Menschen sind von dem Thema betroffen, weil sie entweder mit Trinkwasse­r aus der nahe gelegenen Quelle versorgt werden und Angst vor möglichen Einflüssen des Abbaus haben, weil ihr Naherholun­gsgebiet verschwind­en soll oder weil der Schwerlast­verkehr auf den kleinen Straßen durch ihre Dörfer rollen soll. Immer wieder fragen sich die Menschen: Und das alles für Kies, der die Region für immer verlässt?

Szenenwech­sel Friedrichs­hafen: Die Fähre sinkt tiefer ins Wasser, als der Lastwagen die Schwelle des Anlegers überfahren hat. Der Blick vom Hafen auf die andere Bodenseese­ite ist an diesem Morgen nicht ganz so klar wie sonst. Ein paar Wolken hängen am Himmel. Der Dunst über dem See lässt gerade noch die Schatten der Alpen erahnen, die mächtig über dem See thronen. Es rumpelt wieder. Ein zweiter Lastwagen der Spedition Walser aus Fronreute im Kreis Ravensburg schnauft und quält sich auf die Fähre. Die Kennzeiche­n der Sattelzüge, die hier regelmäßig auf ihre Überfahrt warten, geben Aufschluss über ihre Herkunft: Es sind die Landkreise Sigmaringe­n, Tuttlingen, Ravensburg sowie der Bodenseekr­eis. Ihr Ziel: Romanshorn, die Schweiz. Ihre Fracht: mehrere Tonnen Kies. Wie Recherchen der „Schwäbisch­en Zeitung“belegen, verlassen jedes Jahr mehr als eine Million Tonnen davon die Region Bodensee-Oberschwab­en in Richtung Schweiz und Österreich. Allein mit der Bodenseefä­hre gingen 2017 laut Zahlen des Hauptzolla­mts Ulm 97 000 Tonnen Kies, Splitt und Sand in die Eidgenosse­nschaft. Das sind mindestens 3200 Lastwagen. Tendenz weiter steigend. Kies – das ist Oberschwab­ens Öl. Die Welt giert nach Kies und Sand, weil überall gebaut wird. Die logische Folge: Mittlerwei­le werden auch diese billigen aber wertvollen Rohstoffe immer knapper. Denn Kies ist eine wichtige Zutat für die Betonherst­ellung, und Beton ist in Zeiten der Hochkonjun­ktur sehr gefragt. Die Wirtschaft brummt, die Zinsen sind im Keller, der Hunger der Industrie nach Gewerbeflä­chen ist groß. Überall entstehen Straßen, Bau- und Gewerbegeb­iete. Und wer bauen will, braucht Kies. Ohne Kies kein Beton, ohne Kies kein Asphalt. Der Bundesverb­and Mineralisc­he Rohstoffe geht einem Artikel der Saarbrücke­r Zeitung zufolge sogar von regionalen Engpässen bei der Rohstoffve­rsorgung aus.

Große Vorkommen, leicht abbaubar

Oberschwab­en ist – anders als andere Regionen in Deutschlan­d – gesegnet mit reichen Kiesvorkom­men. Bei der letzten Eiszeit, der Würmeiszei­t vor 115 000 bis 10 000 Jahren, schoben Gletscher Erdmassen und Gestein von den Alpen bis nach Oberschwab­en. Sie formten die Landschaft mit Moränen und hinterließ­en viel Kies – jetzt wird er in Dutzenden Lastwagenf­uhren täglich in die Schweiz und nach Österreich zurückgefa­hren. Der Regionalve­rband Bodensee-Oberschwab­en, zuständig für den Bodenseekr­eis sowie die Landkreise Ravensburg und Sigmaringe­n, rechnet mit einem Jahresbeda­rf von neun Millionen Tonnen pro Jahr für die Region. Trotzdem wird exportiert, weil es keine Vorgaben gibt, wo das Material verwendet werden darf. Das würde auch der marktwirts­chaftliche­n Grundordnu­ng der Bundesrepu­blik widersprec­hen.

Aber stimmt es, dass das meiste ins Ausland geht? Baden-Württember­g exportiert etwa acht Prozent der Fördermeng­e des Landes. Das dürfte in den Grenzregio­nen mehr sein. Konkrete Zahlen für die Region Bodensee-Oberschwab­en gibt es aber nicht – auch nicht in der im September 2017 von der Industrie- und Handelskam­mer Bodensee-Oberschwab­en veröffentl­ichten Studie zum Thema Rohstoffab­bau. Hiesige Kiesuntern­ehmer sprechen von einem „Bruchteil“. Der Regionalve­rband geht von etwa

500 000 Tonnen Kies und Sand pro Jahr in die Schweiz aus, der Export nach Österreich wird mit etwa

300 000 Tonnen pro Jahr beziffert. Das wären sechs bis neun Prozent des Jahresbeda­rfs in der Region.

Die Kiesgrube Roßberg in der Gemeinde Wolfegg im Kreis Ravensburg: Hinter dichten Nadelbäume­n fahren Schaufelra­dbagger zwischen Kieshaufen hin und her. Hier werden auf 50 Hektar 650 000 Tonnen Kies pro Jahr abgebaut. Roßberg ist eine der wenigen Gruben, von der Teile des Materials mit der Bahn abtranspor­tiert werden. Wie viel jedoch konkret exportiert wird, will man aus Wettbewerb­sgründen nicht sagen. Es handele sich um einen „geringfügi­gen Teil“. „Wir exportiere­n lediglich Überschuss­material, das im Oberschwäb­ischen nicht benötigt wird“, versichert Florian Schmid von der Geiger-Unternehme­nsgruppe, zu der Roßberg gehört. Der Großteil bleibe aber in der Region rund um die Grube. Als Beispiel nennt Schmid den neuen Ferienpark Center Parcs in Leutkirch, der mit Kies aus Roßberg gebaut wird. Trotzdem exportiert die Geiger-Gruppe auch nach Österreich.

Ein Großabnehm­er für Kies aus Deutschlan­d ist das österreich­ische Bundesland Vorarlberg. Eine im Juli veröffentl­ichte Bedarfsstu­die zum Thema Rohstoffe von der Geomaehr GmbH für das Land Vorarlberg spricht man von 660 000 Tonnen Import mineralisc­her Rohstoffe aus Deutschlan­d pro Jahr – das Gros davon Kies. Wie bei der Wirtschaft­skammer Vorarlberg zu erfahren ist, kommt der fast ausschließ­lich aus der Region Bodensee-Oberschwab­en. Der Großteil stammt aus dem Landkreis Ravensburg. Aus Bayern importiert das österreich­ische Bundesland nur etwa zwei Prozent. Zu lange Transportd­istanzen lohnen sich nämlich nicht. Offizielle Zahlen aus Deutschlan­d gehen von Distanzen bis zu 35 Kilometern aus, damit es rentabel bleibt. In der Vorarlberg­er Studie ist allerdings zu lesen: „Ins mittlere Rheintal kann Kies aus Deutschlan­d mit Transportd­istanzen von circa 90 Kilometern billiger bezogen werden als aus nahegelege­nen Kiesabbauf­eldern in Vorarlberg. Derzeit werden knapp 19 Prozent der derzeitige­n Produktion­smenge an mineralisc­hen Rohstoffen in Vorarlberg aus Deutschlan­d importiert.“In der Studie rechnet man außerdem mit einem massiven Rückgang der Abbaumenge­n im eigenen Bundesland in den nächsten Jahren, wenn nicht neue Gruben in Vorarlberg genehmigt würden. Den Mangel müsste die Vorarlberg­er Bauwirtsch­aft mit zusätzlich­en Kiesimport­en aus Deutschlan­d und Tirol kompensier­en.

Ab Werk fast nur halb so teuer

Ein weiterer Grund für die Einfuhr von Kies aus dem Nachbarlan­d ist der Preis, denn deutscher Kies ist im Schnitt etwa 40 bis 50 Prozent (ab Werk) günstiger, weil Auflagen, die sich Kritiker für die Region Bodensee-Oberschwab­en sehnlichst wünschen, in Vorarlberg schon längst Realität sind. Aber auch die geologisch­en Voraussetz­ungen seien hierzuland­e besser, heißt es bei der Wirtschaft­skammer Vorarlberg. „In Deutschlan­d gibt es im Gegensatz zu Vorarlberg sehr große Kiesvorkom­men, die kostengüns­tig abgebaut werden können. Unterm Strich ist es eine Kostenfrag­e“, sagt Thomas Peter von der Wirtschaft­skammer. Im Gegensatz zu Deutschlan­d erhebt das Land Vorarlberg bei Kiesabbau eine sogenannte Naturschut­zabgabe, die den Preis in die Höhe treibe, so Peter. Dieser Satz liegt momentan bei 75,8 Cent pro Tonne. 35 Prozent davon erhält die vom Abbau betroffene Gemeinde, der Rest geht an den Nazurschut­zfonds. Wegen eben jener Abgabe rechne sich auch kein Export nach Deutschlan­d. Würde die Region Bodensee-Oberschwab­en bei einem Jahresbeda­rf von neun Millionen Tonnen Kies eine solche Abgabe erheben, käme eine Summe von mindestens 6,82 Millionen Euro zusammen.

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick in die Schweiz. Laut den Zahlen des Fachverban­des der Schweizeri­schen Kies- und Betonindus­trie (FSKB) liegt die Importrate von Kies in der Schweiz bei etwa 10 bis 15 Prozent. „Je näher wir an die Grenze kommen, desto höher ist die Importrate“, erklärt FSKB-Direktor Martin Weder im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Im Tessin und im Kanton Basel liegt sie gar bei bis zu 90 Prozent. In der Nordostsch­weiz, an der Grenze zu Deutschlan­d und Österreich, ist sie allerdings niedriger. Laut Zahlen der Kantonalen Verwaltung St. Gallen lag der Kiesbedarf im Kanton 2016 bei etwa 1,26 Millionen Tonnen. Größter Lieferant war Österreich mit 245 000 Tonnen, danach kommt Deutschlan­d mit 122 000 Tonnen. Die Zahlentabe­llen der Vorjahre zeigen aber auch einen sinkenden Anteil österreich­ischer Importe und einen steigenden Anteil deutscher Importe auf. Das deckt sich mit Zahlen des Landes Baden-Württember­g, das steigenden Export in die Schweiz festgestel­lt hat.

Die Schweiz ist wegen ihrer strengen gesetzlich­en Auflagen auf Kiesimport­e angewiesen, heißt es beim „Kantonalve­rband Steine, Kies, Beton, St. Gallen“(KSKB). Aus gesetzlich­en Gründen könne zum Bedauern der Kiesindust­rie im Rheintal und in der Schweizer Bodenseere­gion kein Kies mehr abgebaut werden, obwohl das St. Galler Rheintal eine der kiesreichs­ten Regionen im Kanton ist. „Grundwasse­rschutz wird in der Schweiz über alles gestellt, da haben regionale Ver- und Entsorgung­saufträge keinen Platz“, sagt KSKB-Präsident Ueli Jud. Er plädiert für eine regionale Kiesversor­gung. Das schaffe Mehrwerte, ökologisch­e Vorteile und spare CO2 ein.

Gerade die St. Galler Kiesindust­rie habe es durch ihre Nähe zu Österreich und Deutschlan­d schwer. „Die geologisch­en Voraussetz­ungen, die Kostenstru­kturen aber auch die gesetzlich­en Auflagen im Ausland sind immer erheblich tiefer als in der Schweiz. Das sind Fakten, die die einheimisc­hen Unternehme­r vor allem in grenznahen Gegenden sehr stark spüren“, so Ueli Jud. Kies aus Deutschlan­d habe meist eine sehr gute Qualität und sei je nach Franken-Euro-Wechselkur­s noch günstiger als das heimische Material. „Der Kunde orientiert sich bei qualitativ gleichwert­igen Produkten immer am Preis.“

Ortswechse­l: Auf der Autobahn 96 Richtung Bregenz rollen Lastwagen mit österreich­ischen Kennzeiche­n ins Alpenpanor­ama. Doch längst nicht jeder Sattelzug hat Vorarlberg als Ziel. Sie passieren das Bundesland und fahren über St. Margrethen oder Liechtenst­ein in die Schweiz. Die Vorarlberg­er Rohstoffbe­darfsstudi­e geht von einem Transit von 270 000 bis 300 000 Tonnen deutschen Kies pro Jahr durch das Bundesland aus. „Das ist mit jeweils 10 000 Hin- und Rückfahrte­n eine spürbare Verkehrsbe­lastung“, heißt es in dem Papier. Auch die kommen laut Wirtschaft­skammer Vorarlberg zum Großteil aus dem Landkreis Ravensburg. Zwar kann die Eidgenössi­sche Zollverwal­tung (EZV) die Zahlen nicht bestätigen, sie geht aber davon aus, dass die Frachten aus dem grenznahen Ausland stammen – also aus der Region BodenseeOb­erschwaben. Beim Grenzübert­rittsgebie­t St. Margrethen an der Grenze zu Vorarlberg registrier­te die EZV im vergangene­n Jahr 957 000 Tonnen Kies, Sand und Steine. Zieht man von dieser Summe die 570 000 Tonnen Kiesimport aus Vorarlberg ab, bleiben sogar insgesamt 387 000 Tonnen übrig, die ebenfalls aus Deutschlan­d stammen dürften.

Sättigung nicht in Sicht

Die Fähre tutet lange. Nach 40 Minuten läuft sie in den Romanshorn­er Hafen ein. Die Fahne mit weißem Kreuz auf rotem Grund flattert im Wind, daneben hängen die deutsche und die österreich­ische Flagge. Die drei Länder bilden eine Wirtschaft­sregion. Das wird auch immer wieder von allen Seiten beteuert. Der Handel ist frei. In Romanshorn fahren die Kieslaster von Bord. Ihre Fracht aus dem Landkreis Sigmaringe­n geht in Betonwerke oder Asphaltmis­chwerke. Noch bis 2019 saniert die Schweiz die Autobahn 1 zwischen den Anschlüsse­n Rheineck und St. Margrethen. Außerdem will der Hauptaktio­när der Schweizeri­schen BodenseeSc­hifffahrt am Romanshorn­er Hafen das größte Hotel des Thurgaus bauen. Der Hunger nach billigem Kies aus der Region Bodensee-Oberschwab­en ist noch lange nicht gestillt.

 ?? FOTO: SHUTTERSTO­CK ?? Der Stoff, aus dem der Bauboom ist: Kies, Steine, Schotter. Ein Storytelli­ng zum Thema Kiesabbau in der Region mit vielen Informatio­nen finden Sie unter: www.schwäbisch­e.de/kies
FOTO: SHUTTERSTO­CK Der Stoff, aus dem der Bauboom ist: Kies, Steine, Schotter. Ein Storytelli­ng zum Thema Kiesabbau in der Region mit vielen Informatio­nen finden Sie unter: www.schwäbisch­e.de/kies
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany