Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Bewegung sollte niemals in den Schmerz gehen“
Die Ärztin Judith Schäfer erklärt, wie Yogatherapie Mobilität auch bei starken Einschränkungen ermöglicht
Seit über 20 Jahren ist Judith Schäfer in der Orthopädie tätig, derzeit in der Abteilung für konservative Orthopädie und Schmerztherapie in der Romed Klinik in Prien am Chiemsee. „Der Körper ist für mich eine Verkettung“, sagt die Ärztin, „ich wollte immer mehr den funktionellen Aspekt miteinbeziehen“. Inspiriert durch ihre Yogapraxis und ihre Tätigkeit als Yogalehrerin, ergänzt sie ihre klassisch-orthopädische Arbeit mit allen Möglichkeiten, die Yoga bietet. Und verhilft damit ihren Patienten zu einem ganz neuen Körpergefühl. Andrea Mertes hat sich mit ihr unterhalten.
Arthrose ist der häufigste Grund für ein Kunstgelenk. Können wir sie aufhalten?
So wie der Apfel runzlig wird und die Haare grau, verschleißt auch das Gelenk. Aufhalten können wir das nicht, aber beeinflussen. Einer der zahlreichen Gründe für Arthrose sind einseitige Bewegungsmuster. Um ein Beispiel zu geben: Wenn ich morgens mit dem Auto zur Arbeit fahre, dort den ganzen Tag sitze und den Abend auf dem Sofa vor dem Fernseher verbringe, hat mein Hüftgelenk einen minimalen Bewegungsspielraum. Es wird nicht so genährt, wie es sein sollte. Muskeln, Bänder und Faszien, die das Gelenk stabilisieren, werden einseitig belastet. Sie verkürzen und erfüllen dadurch ihre Funktion nur unzureichend.
Ein Gelenk wird durch Bewegung genährt?
Genau. Nur so kommen Flüssigkeit und Nährstoffe in den Knorpel. Hüfte, Knie oder Schultergelenk leben vom Wechselspiel aus Belastung und Regeneration. Sie sollen gefordert, aber nicht überfordert werden. Bewegung braucht den Wechsel aus Belastung und Entlastung. Doch sie sollte niemals in den Schmerz gehen.
Bei welchen Schmerzen werden Sie als Ärztin hellhörig?
Zum Beispiel, wenn jemand deshalb nachts nicht schlafen kann oder trotz täglicher Einnahme von Schmerzmitteln ANZEIGE selbst in den grundlegenden Alltagsfunktionen wie Körperhygiene, Haushalt oder Gehfähigkeit zunehmend eingeschränkt ist. In solchen Fällen bin ich dankbar, dass wir die Endoprothetik als eine Möglichkeit haben. Doch es gibt auch die anderen Fälle. Etwa den begeisterten Skifahrer, der mit Knieschmerzen zu mir kommt. Dem kann ich als Ärztin nicht empfehlen: Nehmen Sie Medikamente oder lassen Sie sich gleich operieren, damit Sie weiter Buckelpisten fahren können. Da würde ich am Thema vorbeitherapieren.
Erwarten wir zu viel von unserem Körper?
Ja. Es gibt Menschen, die laufen mit 75 Jahren Marathon. Doch das ist die Ausnahme, nicht die Regel. Der Körper lässt sich nicht beliebig anpassen. Seinen Alterungsprozess sollten wir akzeptieren. Vergleiche mit anderen bringen nichts. Wir sind viel zu stark aufs Außen fixiert. Besser wäre es, in den eigenen Körper, ins eigene Gelenk zu spüren. Jeder Mensch muss für sich selbst herausfinden, was er leisten kann und wie das persönliche Wechselspiel von Belastung und Regeneration funktioniert. Yoga lehrt, den Blick nach innen zu richten.
Sie sind auch Yogalehrerin und bieten Ihren Patienten seit einiger Zeit Yogatherapie. Wie kann der herabschauende Hund oder der Krieger bei Arthrose helfen?
Yogatherapie ist eine individualisierte Behandlung. Das hat nichts zu tun mit dem Bild der überbeweglichen YogaGrazien, die sich verknoten oder im perfekten „Krieger“stehen. In der Yogatherapie nutze ich Übungen, die sogenannten Asanas, Meditation und Atemtechnik. Dabei gehe ich eine intensive Bindung mit meinem Gegenüber ein, indem ich mir ein detailliertes Bild von der Lebensweise, dem Bewegungsverhalten und psychosozialen Kontextfaktoren mache. Mein Ziel ist, starre Bewegungsmuster aufzulösen, Kraft aufzubauen und bewusst mit dem Wechsel von Anspannung und Entspannung zu arbeiten. Oft verändert sich mit der äußeren auch die innere Haltung.
Das heißt?
Selbstwahrnehmung ermöglicht Handeln aus eigenem Antrieb. Daraus können sehr beglückende Momente entstehen. In der Klinik betreue ich unter anderem Patienten, die sich in einer dreiwöchigen, multimodalen Schmerztherapie befinden. Gerade dort habe ich viel über Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit gelernt. Die Yogapraxis in der Gruppe ist Teil des Klinikprogramms. Das heißt, es gibt eine Teilnahmepflicht. Anfängliche Skepsis weicht da in nahezu allen Fällen einer großen Begeisterung und Dankbarkeit. Viele sind stark übergewichtig oder haben noch nie Sport gemacht, sie sind mit ihrer Lebenssituation unzufrieden, haben große Schmerzen, sind mitunter depressiv. Und dann sollen sie sich auch noch anstrengen? Ich leite dann einfache Bewegungen an, im Sitzen oder auf dem Boden. Einatmen, die Arme öffnen, die Brust weiten. Das Herz heben. Ausatmen, Arme schließen. Locker lassen. In diesem Moment geht es nicht um den Schmerz, sondern um Bewegung und Atmung an sich. Das ist Yogatherapie – jemanden nicht einzwängen in eine Bewegungsform. Sondern intuitiv spüren, was möglich ist und auf welche Reise ich den Patienten mitnehme.
Und das kommt bei der Schmerzgruppe gut an?
Ja. Weil die Teilnehmer lernen, ihren Körper wieder mehr zu spüren. Und loslassen zu können. Die wollen alle mehr Yoga.
Auch bei starker Arthrose oder großer Unbeweglichkeit profitieren die Menschen also?
Immer. Auch mit Kunstgelenk. Man muss nur wissen, welche Ziele man anvisiert. Ich hatte mal eine Patientin, die konnte nicht alleine aus dem Vierfüßler-Stand aufstehen. Das war dann eines unserer Ziele, die wir uns gesetzt und auch erreicht haben. Eine andere Patientin war weit über 70 Jahre alt und hatte eine schwere Hüftarthrose, eine Operation war bei ihr jedoch nicht möglich. Wir haben gemeinsam ein Bewegungsprogramm erarbeitet, sie war selig. Bewegung schüttet Endorphine aus. Und die machen glücklich.
Wie sieht der Behandlungsablauf in weniger schweren Fällen aus?
Nach zwei bis vier Sitzungen spürt der Patient, dass sich Bewegungsmuster und Körperbewusstsein gleichermaßen verändern. Im Idealfall kann er alleine weiterüben oder in eine Gruppe wechseln, in der sanftes Yoga gelehrt wird. Die therapeutische Vorbereitung hilft hier, bei sich selbst und seinem Körper zu bleiben, Haltungen für sich gut zu modifizieren. Und nicht alles nachzumachen, was die anderen tun.
Bewegung ist also in jedem Lebensstadium gut, solange sie nicht in den Schmerz geht.
Wir alle bewegen uns zu wenig, das ist ausreichend belegt. Yoga ist eine von vielen Möglichkeiten, wieder Bewegung ins Leben zu bringen – wer lieber tanzen oder schwimmen geht, soll das machen. Wichtig ist die Freude dabei. Und die Vielfalt.