Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Hunger wird als Waffe eingesetzt“
Welthungerhilfe-Koordinator Dirk Hegmanns fürchtet eine humanitäre Katastrophe in der syrischen Rebellenhochburg Idlib
BERLIN - Die Lage in der letzten syrischen Rebellenbastion Idlib bleibt angespannt. Zwar hat ein türkischrussisches Abkommen eine Offensive der syrischen Regierungstruppen bislang verhindert, und am Wochenende riefen auch die Staats- und Regierungschefs der Türkei, Russlands, Frankreichs und Deutschlands noch einmal zur Einhaltung der Waffenruhe auf. Welthungerhilfe-Koordinator Dirk Hegmanns fürchtet dennoch einen womöglich bald bevorstehenden Angriff – und warnt vor einer humanitären Katastrophe. Philipp Hedemann hat ihn befragt.
Herr Hegmanns, Mitte September haben Russland und die Türkei Baschar al-Assad in letzter Minute von einem Angriff auf Idlib abbringen können. Ist die Gefahr einer weiteren humanitären Katastrophe im seit über sieben Jahren währenden Krieg damit gebannt?
Nein! Vielleicht steht die Offensive auf Idlib unmittelbar bevor. Die meisten bewaffneten Gruppen, die Assad noch etwas entgegensetzen können, haben sich in Idlib versammelt. Und Assad hat immer wieder gesagt, dass er ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle bringen will. Also auch Idlib. Daher wir wissen nicht, ob der Waffenstillstand hält.
Welche Folgen hätte ein Angriff auf Idlib?
Katastrophale Folgen! Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln in Idlib sind schon jetzt sehr kritisch. Zudem steht der Winter vor der Tür. Viele Häuser sind zerstört, es mangelt an Heizmaterial. Viele Menschen in Idlib sind schon jetzt in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand und schwer traumatisiert. Weitere Kampfhandlungen und eine weitere Flucht würden ihnen schwer zusetzen, es würde viele Toten geben. Niemand weiß, wie diese humanitäre Katastrophe zu bewältigen wäre.
Bereitet die Welthungerhilfe sich auf eine mögliche Offensive auf Idlib vor?
Ja. Wir eröffnen gerade ein Büro nördlich von Idlib. Von dort aus würden wir die Hilfe koordinieren. Lebensmittelverteilungen, provisorische Unterkünfte, Versorgung mit Heizmaterial, Wasser und HygieneArtikeln – wir haben die Konzepte fertig in der Schublade und können schnell reagieren.
Hilft die Welthungerhilfe schon jetzt Menschen in Syrien?
Ja. Da Essen in Syrien mittlerweile bis zu zehn Mal so teuer wie vor dem Krieg ist, verteilen wir unter anderem Lebensmitteln und beliefern Bäckereien mit Mehl. Sobald die Sicherheitslage es erlaubt, wollen wir die landwirtschaftliche Produktion fördern, damit die Syrer sich wieder besser selbst versorgen können. Im diesem Jahr stellen wir rund 15 Millionen Euro für Syrien bereit. Davon profitieren über 450 000 Menschen.
Ist es nicht zu gefährlich, in einem Kriegsgebiet Hilfe zu leisten?
Wir arbeiten mit drei lokalen Partnerorganisationen zusammen. Wir tun alles, um die Mitarbeiter zu schützen, aber natürlich ist die Arbeit lebensgefährlich. Zum Glück ist bislang keiner der rund 50 Kollegen im Einsatz verletzt, entführt oder getötet worden.
Assad hat in den letzten Jahren von der Opposition gehaltene Gebiete systematisch von humanitärer Hilfe abgeschnitten und aushungern lassen.
Ja, das ist ein riesiges Problem. Das Regime in Syrien hatte schon vor dem Krieg großes Misstrauen gegenüber Nichtregierungsorganisationen wie der Welthungerhilfe. Und jetzt denken die Assad-Leute erst recht, dass wir die Opposition unterstützen. Dabei richtet sich unsere Hilfe ausschließlich nach der Bedürftigkeit und nicht danach, ob jemand für oder gegen Assad ist. Aber leider wird nicht nur in Syrien Hunger als Waffe eingesetzt, auch wenn das natürlich dem Internationalen Völkerrecht und jeglichen Kriegskonventionen widerspricht. Als Humanitäre Helfer stehen wir dem ziemlich hilflos gegenüber. Zudem haben wir die Pflicht, unsere Leute so gut wie möglich zu schützen. Wir können sie nicht auf Himmelfahrtskommandos schicken. Als Hilfsorganisationen können wir die Vereinten Nationen, die EU und die internationale Gemeinschaft nur immer wieder dazu auffordern, die Verhandlungen über freien und sicheren Zugang zu Menschen in Not nie aufzugeben.
Versuchen Assad, aber auch die Oppositionsgruppen, die Helfer zu instrumentalisieren?
Das kommt vor. Aber die Humanitäre Hilfe ist den Prinzipien Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet. Und diese Prinzipien dürfen wir auf keinen Fall aufgeben! Eine islamistische Rebellengruppe wollte einer Hilfsorganisation nur erlauben, in dem von ihr kontrollierten Gebiet Hilfe zu leisten, wenn sie eine Abgabe zahlt. Das wurde natürlich abgelehnt. Wir lassen uns in Syrien nicht erpressen. Nicht von den Rebellen, nicht von Assad, von niemandem!
Das heißt, Ihre Prinzipien waren Ihnen wichtiger als die Möglichkeit, Hilfe leisten zu können?
Wir dürfen unsere Prinzipien nicht verraten, ansonsten verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit und werden erpressbar. Das Ziel der Humanitären Hilfe ist es, möglichst vielen Menschen zu helfen. Ich habe selbst zwei Kinder. Als mitfühlender Mensch und Vater ist es verdammt hart, sich im Einzelfall dagegen zu entscheiden, Kindern und anderen Bedürftigen Hilfe zu leisten, wenn wir dafür unsere Prinzipien aufgeben müssten. Das treibt mir die Tränen in die Augen. Aber als rational denkender Mensch und professioneller Helfer weiß ich, dass es richtig ist, weil wir so insgesamt mehr Menschen helfen können.
Entlassen Sie die syrische Regierung so nicht aus ihrer Verantwortung, sich um ihre Bevölkerung zu kümmern?
Nein, denn wir helfen nur in Regionen, die nicht unter der Kontrolle der Regierung stehen. Würden wir und andere Hilfsorganisationen diesen Menschen nicht helfen, würde ihnen niemand helfen. Das ist keine Option.
Assad denkt bereits über den Wiederaufbau des völlig zerstörten Landes nach. Sollten Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe sich daran beteiligen?
Bundeskanzlerin Merkel hat gesagt, dass es denkbar ist, dass Deutschland sich am Wiederaufbau beteiligt, wenn es zu politischen Veränderungen kommt. So sehe ich das auch. Assad macht sein Land kaputt – und wir sollen es für ihn wiederaufbauen? Das geht natürlich nicht. Aber es darf auch nicht sein, dass die Millionen Syrer, die diesen Krieg nicht gewollt und verursacht haben, im Stich gelassen werden.