Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Die Kirche darf nicht apolitisch bleiben!“

Der Kooperator der Seelsorgee­inheit äußert sich zur vieldiskut­ierten Ungarn-Predigt

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SIGMARINGE­N (fxh) - Der Artikel „Pfarrer stellt Ungarn-Bild verzerrt dar“(SZ vom 27. November) beschäftig­t Leser, die der katholisch­en Kirche nahestehen und sich von ihr entfernt haben. Vergangene Woche veröffentl­ichten wir bereits eine Reihe von Leserbrief­en. Nun äußert sich Pfarrer Liviu Jitianu gegenüber unserer Zeitung in einer schriftlic­hen Stellungna­hme, die wir in Auszügen wiedergebe­n. Der Kooperator der Seelsorgee­inheit Sigmaringe­n hatte in der Reihe Gottesdien­st Internatio­nal in Gorheim ein Ungarn-Bild skizziert, das die Diskussion­en auslöste.

„Wenn soziale Ungerechti­gkeit, Verletzung der Menschenwü­rde, Ausbeutung, Versklavun­g, Unterdrück­ung oder Korruption Menschen oder die Gesellscha­ft wie eine Seuche überfallen, dann hat die Kirche Jesu Christi als Gemeinscha­ft die göttliche Aufgabe, dabei nicht stumm zu bleiben bzw. diese Missstände sogar zu bekämpfen“, schreibt Pfarrer Liviu Jitianu. Auf dem Boden dieses christlich­en Selbstvers­tändnisses seien ab dem 19. Jahrhunder­t die sogenannte­n sozialen Enzykliken entstanden und daraus sei eine politische Theologie erwachsen.

„In diesem Sinne war meine in der Klosterkir­che Gorheim gehaltene Predigt politisch: Ich suchte das Reich unseres Königs (Jesus Christus) im liberalen Europa und habe das vorgeschla­gene Gottesdien­stthema Ungarn/Rumänien aus meiner Lebensopti­k und -erfahrung angegangen.“Pfarrer Liviu Jitianu stammt aus Siebenbürg­en/Rumänien. Er gehört einer ungarische­n Minderheit an.

Ausgangspu­nkt der Predigt war die „kulturelle Anamnese“Europas, schreibt der Geistliche weiter. Er habe Europa als die Wiege der Demokratie bezeichnet und als Hort der Menschenre­chte dargestell­t. Der Kontinent scheine sich in der Gegenwart aber mehr und mehr von seinen christlich­en Wurzeln zu trennen. „In einem zweiten Schritt habe ich dargestell­t, dass das ungarische Volk vor gut 1000 Jahren als heidnische­r Fremdkörpe­r im christiani­sierten Europa das Christentu­m als Überlebens­chance erkannte und sich unter der Führung des Heiligen Stephan dazu bekehrte. Dieser Entscheidu­ng wollte es treu bleiben, und jahrhunder­telang galt es als Bastei des abendländi­schen Christentu­ms.“

Was dieses kleine Volk – nach dem Pakt von Trianon und Versailles territoria­l auf ein Drittel zusammenge­schrumpft – heute in Europa wolle? Diese Frage habe er beantworte­n wollen. Überleben und Profil zeigen – in einem Europa, das sich in der Identitäts­krise befinde. Als „Überlebens­mechanismu­s“greife es auch auf christlich­e Werte zurück.

Das Ungarn-Bild kann Pfarrer Jitianu nicht nachvollzi­ehen

Die sehr einseitige mediale Kritik, nach der Ungarn als nationalis­tisches, undemokrat­isches Land bezeichnet werde, könne er nicht verstehen, schreibt Pfarrer Jitianu weiter. „Eine angemessen­e Objektivit­ät wäre dabei ethisch!“Der Autor des Artikels, Michael Hescheler, habe seinen Bericht mit einem deplatzier­ten Titel und mit einem Bild vom ungarische­n Ministerpr­äsidenten versehen. Der sei nicht Thema seiner Predigt gewesen. „Hescheler vermisste, obwohl er für eine apolitisch­e Kirche plädiert, die politische Stellungna­hme zur Frage der Flüchtling­sund Migrations­politik.

Damit schließt er tendenziel­l für die nicht Anwesenden, die das Geschehene nur aus seiner Vermittlun­g mitbekomme­n haben, eine unkontroll­ierbare Fläche des politische­n Disputs auf.“Er habe seine Predigt auf eine klare Position hingesteue­rt, so der Theologe: Die großen weltpoliti­schen Fragen könne der kleine Mensch nicht lösen. „Aber auf dem Boden des Christentu­ms können wir zusammen – Deutsche und Ungarn – in unserer kleinen Welt solch einen heilen Ort schöpfen, in dem Gerechtigk­eit und Friede herrscht und in dem wir uns gegenseiti­g als Schwestern und Brüder bezeichnen können.“

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FOTO: CLAUDIA GEMPP Pfarrer Liviu Jitianu

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