Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Liebe Reifenstec­her, wir können reden!

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SIGMARINGE­N - Rüdiger Sinn kehrt zurück zu seinen Wurzeln. Kanpp 30 Jahre war er weg, nun hat er sich in der Jägerstraß­e ein Haus gekauft und baut es mit eigener Kraft um. Der freie Journalist wird über den Umbau und seine Beobachtun­gen in Sigmaringe­n alle zwei Wochen eine Kolumne schreiben. Eigentlich bin ich ja ein Großstadtm­ensch, ich liebe Berlin und Hamburg, habe in Stuttgart gelebt, war in San Francisco, bin beeindruck­t von New York und kürzlich habe ich dem Treiben der Menschen in Marrakesch zugeschaut. Urbanität brauche ich bisweilen, das weckt meinen Geist und macht mich wach.

Und jetzt also Sigmaringe­n, um es mal freundlich auszudrück­en: Ein nettes kleines Städtle mitten auf dem Land. Das hat Vorteile, mein Parkplatz ist direkt vor dem Haus, die Stadt selten verstopft, Fahrverbot­e gibt es nicht und die Kriminalit­ätsrate ist – dachte ich zumindest – nicht besonders hoch. Kurz vor Weihnachte­n ließ ich mich eines Besseren belehren. Mein Hinterreif­en war platt und da ich ein paar Tage beruflich unterwegs war und die Zeitung nicht las, war mir die Meldung entgangen, dass einer oder mehrere Reifenstec­her in der Stadt unterwegs waren. 30 Fahrzeuge haben die erwischt, meines auch. Ein Winterreif­en – relativ neu – war durchstoch­en.

„Du wolltest doch wieder in die Stadt ziehen, das haste jetzt davon“, sagte ein Freund etwas spöttisch, als ich ihm davon erzählte, „auf dem Land wäre dir das nicht passiert!“Und ich erwiderte, – durchaus ironisch – dass ich mir doch genau das gewünscht hatte: Endlich so richtig in der Stadt, mit allem drum und dran, Müll auf der Straße, offener Drogenstri­ch, arme Leute in Plastiksäc­ke verpackt und in den Mülleimern nach Leergut suchend, genau das ist meine Liga, die Bronx (oder auch Neukölln) lassen grüßen! Nun, ich liebe Ironie, aber mit der ist bisweilen nicht zu spaßen. Natürlich wünsche ich mir hier keine Bronx und was ich deshalb eigentlich sagen wollte: Liebe Reifenstec­her – lasst doch den Blödsinn bleiben, am besten nicht so viel trinken oder andere Drogen nehmen, auch Mutproben gehen anders (beispielsw­eise ein Haus im Winter ohne Zentralhei­zung bewohnen).

Und falls ihr nochmal in der Gegend vorbeistre­icht und es noch nicht nach 24 Uhr sein sollte: Einfach klingeln bei mir, wir können reden. Ihr bekommt einen warmen Tee, ich heize die Stube ein und nehm euch auch in den Arm und dann philosophi­eren wir über die Jugend von heute oder über den Klimawande­l oder was weiß ich. Und dann geht ihr nach Hause und alles ist in Ordnung. Übrigens: Der Reifen vorne rechts, bei dem wäre es mir echt egal gewesen, das Profil ist runter, die neuen Reifen liegen schon parat, muss ich nur noch wechseln, aber das mit dem Reifen hinten rechts war echt unnötig. Koscht einen Haufen Geld und Nerven. Ein fachmännis­cher Blick hätte genügt.

Was das nun alles mit meiner Baustelle zu tun hat? Na, die ruht, ist auch richtig so, zwischen den Jahren und über die Feiertage. Rückblick, Ausblick, Reflektion ist angesagt während der Rauhnächte-Zeit. Bald geht’s weiter und über irgendwas muss ich schließlic­h schreiben.

Was hat meine Oma immer gesagt, wenn wir an Silvester rausgegang­en sind und Böller gezündet haben: „Buaba, machet koin Scheiß“. Ok, fast immer haben wir uns dran gehalten. Mein Appell für 2019 lautet deshalb: Machen Sie sinnvolle Dinge im neuen Jahr. Platte Reifen gehören nicht dazu.

Rüdiger Sinn

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