Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Den Geheimnissen des Universums auf der Spur
Physiker planen einen gigantischen Teilchenbeschleuniger – Er soll Grundfragen unserer Existenz beantworten
GENF/RAVENSBURG - Physiker am größten Teilchenbeschleuniger der Welt planen ein Zukunftsprojekt mit enormen Ausmaßen – und Kosten. Falls ihre Pläne umgesetzt werden, entsteht bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) im französisch-schweizerischen Grenzgebiet bei Genf ein 100 Kilometer langer ringförmiger Tunnel teils unter dem Genfer See. In dem Beschleuniger Future Circular Collider (FCC), für den insgesamt 24 Milliarden Euro veranschlagt sind, würden ab Ende der 2030er-Jahre Elektronen und Positronen (positiv geladene Elementarteilchen) auf Kollisionskurs gebracht. Zum Vergleich: Der bestehende Teilchenbeschleuniger LHC hat einen 27 Kilometer langen Tunnel.
„Das Projekt würde sich im Genfer Becken gut realisieren lassen“, sagte Studienleiter Michael Benedikt zur Veröffentlichung der Konzeptstudie in Genf. Die existierenden Anlagen könnten weiter genutzt werden, etwa als Vorbeschleuniger. Die Cern-Physiker suchen unter anderem Erkenntnisse über die ersten Nanosekunden nach dem Urknall und der Entstehung des Universums. Zudem wollen sie bislang unbekannte Teilchen nachweisen.
Der bestehende LHC-Beschleuniger dürfte noch 20 Jahre laufen, sagte Benedikt. Er wurde im Dezember für zweijährige Wartungsarbeiten abgeschaltet. Parallel wird bereits an einem Ausbau mit stärkeren Magneten gearbeitet, dem sogenannten HiLumi LHC-Projekt. Es soll 2025 fertig sein. Die Physiker wollen damit die Zahl der Protonenkollisionen pro Sekunde von einer auf fünf Milliarden erhöhen.
Größere Kurve, schnellere Teilchen
Zunächst würden in dem neuen 100 Kilometer langen Tunnel Elektronen und Positronen zur Kollision gebracht. Der FCC wäre dabei bis zu 100 000-mal leistungsfähiger als bisherige Anlagen am Cern, so Benedikt.
Professor Othmar Marti, Experimentalphysiker an der Uni Ulm, erklärt die Wirkungsweise des deutlich längeren Tunnels so: „Wenn sie mit dem Auto in einem kleinen Kreis fahren, können sie nicht sehr schnell sein. Je größer die Kurve jedoch ist, desto schneller können sie auch fahren.“In dem neuen Tunnel würden daher mit hoher Geschwindigkeit und unter erheblich höherer Energie als bisher zwei Teilchenströme in entgegengesetzte Richtung fliegen. In der Folge kommt es bei je zwei Teilchen „zu einem Frontalcrash, dadurch entstehen neue Teilchen, die dann analysiert werden“, so Marti zur „Schwäbischen Zeitung“. Auch hier die Analogie zum Auto: „Wenn zwei Autos zusammenstoßen, fliegen Teile in alle Richtungen. Untersucht wird beim Teilchenbeschleuniger dann, was genau wie schnell wegfliegt.“Daraus würden die Forscher schließen, was eigentlich passiert ist – bei der Entstehung unseres Kosmos.
Philosophische Fragen
„Wir sind aus Atomen aufgebaut“, erklärt Marti weiter. Mit einer negativ geladenen Elektronenhülle und einem positiv geladenen Kern, bestehend aus Protonen und Neutronen. Protonen stoßen sich ab, Neutronen binden. Protonen und Neutronen sind teilbar – in elementarere Teilchen. Verstehen wir die Teilchen, „verstehen wir besser, wie unser Universum funktioniert“.
Dennoch bleibt die Frage nach dem konkreten Nutzen für den Menschen: „Das, was bei dieser Forschung raus kommt, dürfte für das tägliche Leben relativ wenig Wichtigkeit haben“, sagt der Experimentalphysiker. Zwar werde es auch ganz praktische Erkenntnisse geben, etwa wie man mit riesigen Datenmengen umgeht. „Der eigentliche Antrieb, der hinter diesen Forschungen steht, ist aber der gleiche wie in der Philosophie: die Grundfragen, die sich die Menschen seit Jahrtausenden und noch länger stellen: Warum? Woher? Wieso?“
Die Cern-Physiker haben ihr Konzept im Rahmen der zur Zeit diskutierten neuen europäischen Strategie für Teilchenphysik vorgelegt. Bis
2020 wollen Wissenschaftler aus ganz Europa Empfehlungen geben, wie die Teilchenphysik vorangebracht werden kann. Ob der neue Teilchenbeschleuniger tatsächlich gebaut wird, müssten die 22 Mitgliedsstaaten des Cern entscheiden. Das Projekt würde in der ersten Phase neun Milliarden Euro kosten. Ein Protonenbeschleuniger, der nach
2055 in Betrieb gehen würde, würde etwa weitere 15 Milliarden Euro kosten.
Gewiss eine hohe Summe, die man laut Othmar Marti aber in Relation setzen sollte: „Der Gotthard-Basistunnel mit seinen zwei je rund 50 Kilometer langen Tunnelröhren hat mehr gekostet.“Er mag zwar sehr nützlich sein, die Grundfragen unserer menschlichen Existenz kann dieser aber nicht beantworten.