Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Stille im Bauch
Eine Trauergruppe hilft Eltern nach einer stillen Geburt, Mut zu fassen.
SIGMARINGEN - In Baden-Württemberg sterben laut Angaben des statistischen Landesamts etwa drei von
1000 Babys im Mutterleib (Stand: Jahr 2017). Laut Angaben der SRHKliniken im Kreis Sigmaringen kamen im Jahr 2017 an den Sigmaringer und Bad Saulgauer Standorten insgesamt fünf Babys mit einem Geburtsgewicht von mehr als 500 Gramm tot zur Welt. Still geboren nennt man solche Kinder auch – weil nach der Entbindung kein erlösender erster Schrei durch den Kreissaal hallt.
Xenia Krämer, die als Ehrenamtskoordinatorin in der Seelsorgeeinheit Sigmaringen arbeitet und zudem qualifizierte Trauerbegleiterin und ausgebildete Kinderkrankenschwester ist, hat eine bestehende Gruppe für trauernde Eltern in Pfullendorf übernommen und führt diese nun in Sigmaringen fort – im monatlichen Rhythmus (siehe Kasten). Derzeit haben sich fünf Betroffene der Gruppe angeschlossen. Eine davon ist eine junge Mutter aus Pfullendorf. Die 29Jährige hat ihr Kind noch im Mutterleib verloren. Im Sommer 2017 – der errechnete Entbindungstermin war schon verstrichen – spürt sie auf einmal keine Kindsbewegungen mehr. Besorgt sucht die Schwangere ihre Frauenarztpraxis auf. „Beim CTG hat der Arzt keine Herztöne mehr gefunden“, so die Frau, die anonym bleiben möchte. Auch der Ultraschall bleibt erfolglos. „Dann sagt der Arzt die Worte, die du nicht hören willst...“, erzählt die Pfullendorferin und stockt. Auch ein Termin im Bad Saulgauer Krankenhaus bringt nicht die herbeigesehnte Entwarnung. Das Kind war im Bauch verstorben. Die heute 29-Jährige erinnert sich an die nüchternen Worte des Arztes, an die warme Umarmung der Hebamme. Mit einer Handvoll Broschüren wird das Paar nach Hause geschickt, um das schier Unmögliche zu verarbeiten. „Wir haben unsere Familie informiert und waren am See spazieren“, berichtet die Frau. „Ich erinnere mich an die Stille im Bauch.“Von einer Trauergruppe für betroffene Eltern wusste sie damals noch nichts. Unterstützung, wie sie Xenia Krämer heute anbietet, hätte die junge Frau sehr gern in Anspruch genommen: Die Trauerbegleiterin, die selbst Mutter ist, begleitet auf Wunsch stille Geburten und unterstützt die Familie in der schweren Zeit.
Wie in solchen Fällen ab der 16. Schwangerschaftswoche üblich, werden die meisten sogenannten Sternenbabys auf natürliche Weise geboren. Auch bei der 29-jährigen Pfullendorferin wird die Geburt eingeleitet. Nach fünf Stunden ist der Junge auf der Welt. „Ich habe mich erst nicht getraut, ihn anzusehen“, berichtet die junge Mutter. Doch der unbefangene Umgang der Hebamme mit dem Kind nimmt ihr schnell die Berührungsängste. „Er hat riesige Füße“, stellt die Geburtshelferin schmunzelnd fest. Trotz all der Trauer und des Schmerzes ist da der Stolz und die Freude, das Kind zu sehen, auf das sie so viele Monate gewartet hatte. Die Hebamme behandelt das Baby wie einen normalen Säugling, misst und wiegt ihn, macht Bilder von dem kleinen Jungen, die heute in einem liebevoll gestalteten Album kleben – neben Fußabdrücken, Babybauchfotos, Eindrücken von der Babyparty aber auch Bilder der Beerdigung sowie vom bunt geschmückten Grab. Jede wertvolle Erinnerung wird kultiviert. Mit dem Büchlein will die 29Jährige auch ihrer heute vier Monate alten Tochter ihren verstorbenen Bruder näher bringen. Nach dem Stillgeborenen folgte nämlich ein Regenbogenbaby, so nennt man Geschwisterkinder, die auf ein Sternenkind folgen. „Sie schreit und lacht für meinen Sohn mit“, sagt die stolze Mama über das Temperament ihrer Zweitgeborenen. Unweigerlich kommen Vergleiche auf: Wie würde der Sohn heute aussehen? Wie würde er lachen, weinen, sich entwickeln?
Viele Sterneneltern fühlen sich mit ihrem Schicksal alleingelassen. Statt Geburtskarten flattern Kondolenzbekundungen ins Haus. Das Umfeld weiß nicht, wie es mit der Situation umgehen soll: Nachbarn, die die Straßenseite wechseln, oder Bekannte,
sagt eine junge Pfullendorferin, die still geboren hat.
die unwillentlich verletzende Dinge sagen – oder wissen wollen, was vorgefallen ist. Dabei kann die 29-Jährige die Frage nach der Ursache nicht mal sich selbst beantworten. Verstanden fühlt sich die Pfullendorferin von der Bestatterin, die vor Jahrzehnten auch still geboren hatte. „Sie stand mit mir weinend am Grab.“
In der Gruppe für trauernde Eltern sind Mütter und Väter, die sich ganz frisch mit der Situation auseinandersetzen müssen, ebenso willkommen, wie Sterneneltern, die schon vor Jahren den Verlust ihres Babys durchlebt haben. „Manche widmen den Abend dann ihrem Kind“, sagt Xenia Krämer, die derzeit ein Theologie-Grundstudium absolviert. Fast hätte sie sich vor einigen Jahren zur Hebamme ausbilden lassen – bis sie auf die Idee kam, Eltern statt beim Lebensanfang am Lebensende ihres Kindes beizustehen. Die Themen, über die gesprochen wird, sind nicht fix vorgegeben, der Austausch steht im Fokus – gemeinsame Rituale sollen eine Atmosphäre der würdevollen Erinnerung schaffen und den Trauerweg erleichtern. Einige Sternenmamas aus der Gruppe haben Regenbogenbabys geboren. „Das war für mich wichtig zu sehen“, sagt die junge Pfullendorferin. „Es geht weiter.“
„Dann sagt der Arzt die Worte, die du nicht hören willst...“,