Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Reptilien in der Wäschekammer
Exoten gibt es inzwischen zu Schnäppchenpreisen. Das spürt auch die Reptilienauffangstation in München: Sie platzt aus allen Nähten
MÜNCHEN - Die braun gemusterte Schlange hält ganz still, als Marie Brügge sie vorsichtig in einen weißen, mit Wasser gefüllten Bottich legt. Es handelt sich um eine junge Boa constrictor, schlank und etwa einen halben Meter lang. Ein ausgewachsenes Tier kann bis zu vier Meter lang werden. Die Abgottschlange, so ihr deutscher Name, kam am Vortag zusammen mit 15 Geschwistern und dem Muttertier in die Auffangstation für Reptilien in München.
„Sie hat Schwierigkeiten beim Häuten. Im Wasser kann man die Haut wie einen Strumpf abziehen“, erklärt die junge Frau, Tiermedizinstudentin aus Hannover. Sie macht ein Praktikum und ist auf der Quarantänestation eingeteilt, wo alle Neuankömmlinge untersucht werden und die ersten Wochen untergebracht sind. Der Raum ist schmal und klein, eine umgebaute Mitarbeitertoilette. Behälter und Terrarien stapeln sich bis unter die Decke. Wie in fast jedem Raum. Die Auffangstation ist Deutschlands größte Einrichtung ihrer Art für Reptilien – und die einzige in Süddeutschland. So kommt es auch, dass immer wieder Exoten aus Baden-Württemberg in München landen.
1300 Tiere in drangvoller Enge
Die Station platzt aus allen Nähten. 2001 hatte der damals neu gegründete Verein die Räume in der Kaulbachstraße 37 am Englischen Garten bezogen. Es war ein Provisorium in der Tiermedizinischen Fakultät – und das ist es bis heute. Mit noch weniger Platz. Insgesamt beherbergt die Station inzwischen 1300 Tiere, vor allem Reptilien und Spinnen, seit einigen Jahren auch Wildtiere, wie Waschbären. Die Wildtiere und die größeren Reptilien sind zwar in zwei Dependancen untergebracht, dennoch stehen in der Kaulbachstraße Terrarien mit Schlangen und Echsen im Gang. Selbst in der Wäschekammer und im Büro von Markus Baur, dem Leiter der Einrichtung, sind Tiere untergebracht.
Baur, 51 Jahre, T-Shirt, langer Pferdeschwanz, würde das an sich nicht stören. Er ist Reptilienliebhaber durch und durch, auf Äußerlichkeiten legt er keinen Wert. Sorge bereitet ihm der nicht endende Zulauf an Tieren trotzdem. Und Ärger. Denn verschärft wird die Situation durch einen Trend, der den passionierten Tierarzt in Rage bringen kann: Einige Reptilienarten werden inzwischen zu Spottpreisen im
Internet oder sogar im Baumarkt angeboten. Da ist die Schwelle zuzugreifen niedrig. Menschen, die keine Ahnung von Reptilien haben, kaufen sich welche, weil sie das schick finden. Zumindest eine Zeit lang. „Dann sind sie überfordert und setzen sie aus“, sagt Baur.
Inzwischen ist er Herr Dutzender Kornnattern, Griechischer Landschildkröten und Königspythons. Für diese Spezies herrscht genereller Aufnahmestopp. Sie loszuwerden, ist extrem schwierig – dabei sollte die Auffangstation idealerweise nur vorübergehend Quartier bieten.
Beispiel Griechische Landschildkröte: „In Kroatien gibt es Farmen, die verkaufen sie schon für 20 bis 50 Euro“, sagt Baur. Wenn eine entkommt, machten sich viele Halter erst gar nicht auf die Suche. Sie kaufen einfach eine neue. Ähnlich bei Königspythons, die Baur zufolge momentan ein „ganz großes Problem“seien. Sie werden in immer neuen Farbvarianten gezüchtet, und es gibt Halter, die nur die neuesten Farben haben wollen. „Die wildfarbenen werden uninteressant und müssen weg. Dabei sind das wunderschöne Tiere.“Fast 90 beherbergt die Auffangstation, bei Kornnattern sind es sogar 120. „Das passt zum Zeitgeist: öfter mal was Neues zusammen mit der Geiz-ist-geil-Mentalität“, klagt Baur.
Fast täglich melden sich Halter, die ihre Tiere loswerden wollen – oder auch müssen. Meist lehnt Baur ab, doch es gibt Notlagen. „Kürzlich haben wir eine Giftschlangensammlung
Markus Baur, Leiter der Reptilienauffangstation
übernommen, der Halter ist inzwischen über 80 und dement.“Für solche Fälle hat er Verständnis. Er und sein Team versuchen dann, die Tiere zu vermitteln oder doch noch in den Räumlichkeiten der Universität unterzubringen. Manchmal auch privat. Denn in der Auffangstation sind fast alle Reptilienfans – egal ob Tierärzte, Tierpfleger und Azubis.
Gesetzt sind außerdem Exoten, die Zoll- und Tierschutzbehörden beschlagnahmt oder aufgefunden haben. Bayernweit, oft bundesweit. Dass die Einrichtung sie übernimmt, ist vertraglich vereinbart, dafür gibt es Fördergeld.
Ein doppelt gesicherter Raum
Der Weg durch die Station führt durch neonbeleuchtete Gänge mit Linoleumboden, der den Charme der 80er-Jahre verbreitet. Vorbei an Vogelspinnen, Bartagamen und Regenboas kommt man zu einem doppelt gesicherten Raum: Hier leben die Giftschlangen, Zutritt hat nur dafür ausgebildetes Personal. Öffnet man die erste Tür, erlaubt eine weitere Tür aus Glas den Blick hinein. „Damit man sieht, wenn doch mal eine Schlange ausgekommen sein sollte“, erklärt Pressesprecherin Petra Taint. Es gibt auch eine „Sauna“: zwei geheizte Holzräume, gespendet von einem Reptilienliebhaber.
Hier lebt unter anderem Ambrosius, die in ihren Maßen beeindruckende Anakonda, die 2016 im Siferlinger See im Landkreis Rosenheim Badegäste verschreckte. Ambrosius ist nicht das einzige SommerlochTier auf der Station: Auch Geierschildkröte Eugen und Schnappschildkröte Suarez fristen in der Auffangstation ihr Dasein – in der Außenstation in Freimann. Die bissigen, an Urviecher erinnernden Reptilien sind nicht vermittelbar, da Privathaltung inzwischen verboten ist. Baur bewertet dies zwiespältig: „Deutschland hat das strengste Tierschutzgesetz, eigentlich ist das gut. Aber wenn Arten verboten werden, müsste der Staat dafür sorgen, dass die weitere Haltung vorhandener Tiere finanziell abgesichert ist.“Besitzer durften vor 1999 erworbene Schnappschildkröten zwar behalten, trotzdem landet jedes Jahr eine neue auf der Station, die Platz und Futter braucht.
Die Station wird zwar vom Freistaat gefördert, doch zu zwei Dritteln muss sich der Verein selbst tragen – mithilfe von Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Das Geld ist immer knapp. Regelmäßig fürchten die Reptilienliebhaber, schließen zu müssen. Zuletzt setzte der Verein vor drei Jahren einen Notruf ab. Der wirkte. Der Freistaat bewilligte neun Millionen Euro für einen Neubau in Neufahrn. Die zehnte nötige Million muss der Verein aufbringen. Das bereits seit geraumer Zeit ausgewählte Grundstück befindet sich in unmittelbarer Nähe des Tierheims Freising. Baubeginn soll 2022 sein.
Abhilfe ist in Sicht
„Wir werden dann erheblich mehr Fläche haben“, sagt Baur. Die Mitarbeiter werden endlich die Toiletten nicht mehr mit Studenten teilen müssen und einen eigenen Pausenraum bekommen. Das Team ist fest entschlossen, die Anzahl der Tiere nicht zu erhöhen. Terrarien bis zur Decke sollen der Vergangenheit angehören, allein schon aus Sicherheitsgründen.
Doch wer weiß schon, ob Baur und seine Mitstreiter hart bleiben, wenn sie Anfragen verzweifelter Halter bekommen – wie im Fall des Besitzers einer Boa-constrictor-Familie am Vortag. Der Mann hatte eine Schlange gekauft, die dann überraschend 16 Junge bekam. Würgeschlangen können Sperma speichern und Jahre später ihre Eier befruchten. Mehrfach hatte Baur Anfragen zunächst abgewiesen, doch da sich der junge Mann in seiner Not selbst anzeigte, lenkte er am Ende ein. Auch wenn die Auffangstation jetzt nahezu 50 Boas durchfüttern muss.
„Das passt zum Zeitgeist: öfter mal was Neues zusammen mit Geiz-ist-geil-Mentalität.“