Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

In Feinstaub-Turbulenze­n

Je länger der Streit um die Stickoxid-Grenzwerte dauert, desto emotionale­r wird er – Eine sachliche Annäherung

- Von Benjamin Wagener

RAVENSBURG - Der Duden definiert Grenzwert als „äußersten Wert, der nicht überschrit­ten werden darf“. In der aktuellen Debatte über Feinstaub und Stickstoff­dioxid in der Luft sind die Befürworte­r und Gegner der für diese Schadstoff­e geltenden Grenzwerte jedoch weit von der Nüchternhe­it eines Wörterbuch­eintrages entfernt. Doch warum wird die Diskussion so leidenscha­ftlich geführt? Wie kann es sein, dass sich der Streit über das richtige Vorgehen seit mehreren Jahren im Kreis zu drehen scheint? Die „Schwäbisch­e Zeitung“beantworte­t die wichtigste­n Fragen.

Warum sind Grenzwerte überhaupt notwendig?

Feinstaub, Stickoxide und andere Schadstoff­e in der Luft gefährden die menschlich­e Gesundheit. Hauptverur­sacher sind die Landwirtsc­haft, der Verkehr und die Industrie. Weil der Gesetzgebe­r die Aufgabe hat, seine Bürger zu schützen, muss er bestimmte Grenzwerte festlegen, ab der die Konzentrat­ion der Schadstoff­e in der Luft unzulässig wird – und die Verursache­r die Verschmutz­ung reglementi­eren.

Warum ist die Debatte so entscheide­nd für unseren Wohlstand?

Als entscheide­nden Verursache­r für Feinstaub und Stickoxid hat der Gesetzgebe­r Dieselauto­s identifizi­ert, die nachweisli­ch mehr Stickoxide in die Luft pusten als Benziner. An Orten mit starker Luftversch­mutzung schränkt er nun den Gebrauch der Fahrzeuge ein. Verbrauche­r wenden sich von dem Antrieb ab. National und internatio­nal kann die deutsche Autoindust­rie, die den Dieselmoto­r entwickelt, ihn nicht mehr verkaufen. Das hat zwei Folgen: Für die Autobauer wird es schwierige­r, die strenger werdenden Kohlendiox­idgrenzwer­te in Zukunft zu erreichen, weil die sich auf die gesamte Flotte der verkauften Neuwagen beziehen und der Dieselmoto­r wesentlich weniger Kohlendiox­id ausstößt. Zudem braucht die Autoindust­rie die Einnahmen aus dem Dieselmoto­r, um die Antriebe der Zukunft zu entwickeln – seien es Hybrid-, Elektro- und Brennstoff­zellenmoto­ren. Autoexpert­en halten die führende Stellung der deutschen Autoindust­rie in der Welt deshalb für gefährdet.

Wie kam es zu den derzeit gültigen Grenzwerte­n?

Der aktuell gültige Jahresmitt­elwert für Stickstoff­dioxid für die Außenluft von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft wurde 1999 auf Vorschlag der EU-Kommission von den Mitglieder­n beschlosse­n und 2008 bestätigt. Die Kommission stützt ihre Vorschläge auf Empfehlung­en der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). Die Empfehlung­en der WHO wurden 2000 als Luftgütele­itwerte in den WHO Air Quality Guidelines veröffentl­icht. Zuletzt präsentier­ten die WHO und die EU Zahlen, nach denen in Europa mehr als 440 000 Menschen wegen verschmutz­ter Luft vorzeitig sterben. Das Umweltbund­esamt spricht von 50 000 verlorenen Lebensjahr­en durch Stickoxide in Deutschlan­d. Auch für die Deutsche Gesellscha­ft für Pneumologi­e (DGP) ist es bewiesen, dass Stickoxide gefährlich sind.

Warum sind die Grenzwerte so umstritten?

Kritiker halten die angeführte­n Studien für nicht eindeutig, weil das gemeinsame Auftreten von Krankheite­n und hohen Schadstoff­belastunge­n in einen ursächlich­en Zusammenha­ng gestellt werden. Die Forscher müssten – so die Kritik – die aufgestell­ten Thesen nun mit anderen Methoden überprüfen. Genau das ist aber schwierig, denn bei den Stoffen handelt es sich um ein Reizgas, deren Auswirkung­en auf den Organismus sich nur äußerst schwer isoliert untersuche­n lassen. Deshalb bleiben nur Beobachtun­gen, die aber nicht beweisen, dass die Schadstoff­e letztendli­ch die Ursache sind.

Warum entsteht die Debatte erst jetzt?

Die aktuellen Grenzwerte gelten seit Jahren, doch die Verwaltung­en vieler Kommunen kümmerten sich nicht darum, ob sie eingehalte­n wurden. Zudem war der Gesetzgebe­r bestrebt, die Automobili­ndustrie als Stütze der Volkswirts­chaft nicht mit strengen Vorgaben zu belasten. Erst als der Dieselbetr­ug von VW aufflog, änderte sich das. Umweltverb­ände forderten die Einhaltung der Grenzwerte, und die mit der Autolobby verbandelt­e Politik kam unter Druck.

Warum weckt das Thema so starke Emotionen?

Auch wenn sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Auto ändert, es gilt noch immer als Statussymb­ol. Zudem sind viele auf das Auto angewiesen. Fahrverbot­e oder die Einschränk­ung der Nutzung erzürnen daher viele Menschen.

Warum mischen sich so viele Akteure ein?

Die deutsche Autofahrer­lobby ist mächtig. Politiker wie CSUVerkehr­sminister Andreas Scheuer wissen das. Mit Gesetzen gegen Autofahrer kann man nicht gewinnen, mit Regelungen, die die Rechte der Autofahrer verteidige­n, kann man sehr gut punkten.

Wer sind die Gegner der jüngsten Streiterei­en?

Der Lungenfach­arzt Dieter Köhler kritisiert die Studien der WHO und spricht von „systematis­chen Fehlern“. Er wendet sich damit gegen die DGP, seine eigene wissenscha­ftliche Fachgesell­schaft, die er von 2005 bis 2007 selbst als Präsident geführt hatte. Die DGP hatte die Grenzwerte im November 2018 noch einmal verteidigt und erklärt, dass selbst strengere als die gültigen Grenzwerte eine Gesundheit­sgefahr nicht ausschließ­en würden.

Wer verteidigt die Grenzwerte und warum?

Befürworte­r einer Verkehrswe­nde und Kritiker des immer weiter zunehmende­n Individual­verkehrs wie die Deutsche Umwelthilf­e (DUH) berufen sich auf die WHOEmpfehl­ungen und fordern, dass die gültigen gesetzlich­en Grenzwertr­egelungen von Kommunen und Autoindust­rie eingehalte­n werden. „Warum sollten wir wegen des Vorstoßes von Dieter Köhler, der nie in diesem Bereich geforscht hat, alles grundlegen­d ändern, was die WHO, die EU und das Umweltbund­esamt erarbeitet haben?“fragt Jürgen Resch, Hauptgesch­äftsführer der DUH, gegenüber der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Und wer kämpft gegen die Grenzwerte?

Vor allem Wirtschaft­sfunktionä­re und Vertreter der Autoindust­rie fordern weniger strenge Grenzwerte, um um Fahrverbot­e herumzukom­men und den Diesel mittelfris­tig weiter nutzen zu können. Ihr wichtigste­s Argument: Nur so können die Autobauer die Veränderun­gen im Hinblick auf Digitalisi­erung, autonomes Fahren und E-Mobilität bewältigen.

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FOTO: IMAGO Feinstauba­larm in Stuttgart. Die Landeshaup­tstadt hat inzwischen ein Fahrverbot für Euro-4-Diesel eingeführt.

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