Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
In Feinstaub-Turbulenzen
Je länger der Streit um die Stickoxid-Grenzwerte dauert, desto emotionaler wird er – Eine sachliche Annäherung
RAVENSBURG - Der Duden definiert Grenzwert als „äußersten Wert, der nicht überschritten werden darf“. In der aktuellen Debatte über Feinstaub und Stickstoffdioxid in der Luft sind die Befürworter und Gegner der für diese Schadstoffe geltenden Grenzwerte jedoch weit von der Nüchternheit eines Wörterbucheintrages entfernt. Doch warum wird die Diskussion so leidenschaftlich geführt? Wie kann es sein, dass sich der Streit über das richtige Vorgehen seit mehreren Jahren im Kreis zu drehen scheint? Die „Schwäbische Zeitung“beantwortet die wichtigsten Fragen.
Warum sind Grenzwerte überhaupt notwendig?
Feinstaub, Stickoxide und andere Schadstoffe in der Luft gefährden die menschliche Gesundheit. Hauptverursacher sind die Landwirtschaft, der Verkehr und die Industrie. Weil der Gesetzgeber die Aufgabe hat, seine Bürger zu schützen, muss er bestimmte Grenzwerte festlegen, ab der die Konzentration der Schadstoffe in der Luft unzulässig wird – und die Verursacher die Verschmutzung reglementieren.
Warum ist die Debatte so entscheidend für unseren Wohlstand?
Als entscheidenden Verursacher für Feinstaub und Stickoxid hat der Gesetzgeber Dieselautos identifiziert, die nachweislich mehr Stickoxide in die Luft pusten als Benziner. An Orten mit starker Luftverschmutzung schränkt er nun den Gebrauch der Fahrzeuge ein. Verbraucher wenden sich von dem Antrieb ab. National und international kann die deutsche Autoindustrie, die den Dieselmotor entwickelt, ihn nicht mehr verkaufen. Das hat zwei Folgen: Für die Autobauer wird es schwieriger, die strenger werdenden Kohlendioxidgrenzwerte in Zukunft zu erreichen, weil die sich auf die gesamte Flotte der verkauften Neuwagen beziehen und der Dieselmotor wesentlich weniger Kohlendioxid ausstößt. Zudem braucht die Autoindustrie die Einnahmen aus dem Dieselmotor, um die Antriebe der Zukunft zu entwickeln – seien es Hybrid-, Elektro- und Brennstoffzellenmotoren. Autoexperten halten die führende Stellung der deutschen Autoindustrie in der Welt deshalb für gefährdet.
Wie kam es zu den derzeit gültigen Grenzwerten?
Der aktuell gültige Jahresmittelwert für Stickstoffdioxid für die Außenluft von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft wurde 1999 auf Vorschlag der EU-Kommission von den Mitgliedern beschlossen und 2008 bestätigt. Die Kommission stützt ihre Vorschläge auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Empfehlungen der WHO wurden 2000 als Luftgüteleitwerte in den WHO Air Quality Guidelines veröffentlicht. Zuletzt präsentierten die WHO und die EU Zahlen, nach denen in Europa mehr als 440 000 Menschen wegen verschmutzter Luft vorzeitig sterben. Das Umweltbundesamt spricht von 50 000 verlorenen Lebensjahren durch Stickoxide in Deutschland. Auch für die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie (DGP) ist es bewiesen, dass Stickoxide gefährlich sind.
Warum sind die Grenzwerte so umstritten?
Kritiker halten die angeführten Studien für nicht eindeutig, weil das gemeinsame Auftreten von Krankheiten und hohen Schadstoffbelastungen in einen ursächlichen Zusammenhang gestellt werden. Die Forscher müssten – so die Kritik – die aufgestellten Thesen nun mit anderen Methoden überprüfen. Genau das ist aber schwierig, denn bei den Stoffen handelt es sich um ein Reizgas, deren Auswirkungen auf den Organismus sich nur äußerst schwer isoliert untersuchen lassen. Deshalb bleiben nur Beobachtungen, die aber nicht beweisen, dass die Schadstoffe letztendlich die Ursache sind.
Warum entsteht die Debatte erst jetzt?
Die aktuellen Grenzwerte gelten seit Jahren, doch die Verwaltungen vieler Kommunen kümmerten sich nicht darum, ob sie eingehalten wurden. Zudem war der Gesetzgeber bestrebt, die Automobilindustrie als Stütze der Volkswirtschaft nicht mit strengen Vorgaben zu belasten. Erst als der Dieselbetrug von VW aufflog, änderte sich das. Umweltverbände forderten die Einhaltung der Grenzwerte, und die mit der Autolobby verbandelte Politik kam unter Druck.
Warum weckt das Thema so starke Emotionen?
Auch wenn sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Auto ändert, es gilt noch immer als Statussymbol. Zudem sind viele auf das Auto angewiesen. Fahrverbote oder die Einschränkung der Nutzung erzürnen daher viele Menschen.
Warum mischen sich so viele Akteure ein?
Die deutsche Autofahrerlobby ist mächtig. Politiker wie CSUVerkehrsminister Andreas Scheuer wissen das. Mit Gesetzen gegen Autofahrer kann man nicht gewinnen, mit Regelungen, die die Rechte der Autofahrer verteidigen, kann man sehr gut punkten.
Wer sind die Gegner der jüngsten Streitereien?
Der Lungenfacharzt Dieter Köhler kritisiert die Studien der WHO und spricht von „systematischen Fehlern“. Er wendet sich damit gegen die DGP, seine eigene wissenschaftliche Fachgesellschaft, die er von 2005 bis 2007 selbst als Präsident geführt hatte. Die DGP hatte die Grenzwerte im November 2018 noch einmal verteidigt und erklärt, dass selbst strengere als die gültigen Grenzwerte eine Gesundheitsgefahr nicht ausschließen würden.
Wer verteidigt die Grenzwerte und warum?
Befürworter einer Verkehrswende und Kritiker des immer weiter zunehmenden Individualverkehrs wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) berufen sich auf die WHOEmpfehlungen und fordern, dass die gültigen gesetzlichen Grenzwertregelungen von Kommunen und Autoindustrie eingehalten werden. „Warum sollten wir wegen des Vorstoßes von Dieter Köhler, der nie in diesem Bereich geforscht hat, alles grundlegend ändern, was die WHO, die EU und das Umweltbundesamt erarbeitet haben?“fragt Jürgen Resch, Hauptgeschäftsführer der DUH, gegenüber der „Schwäbischen Zeitung“.
Und wer kämpft gegen die Grenzwerte?
Vor allem Wirtschaftsfunktionäre und Vertreter der Autoindustrie fordern weniger strenge Grenzwerte, um um Fahrverbote herumzukommen und den Diesel mittelfristig weiter nutzen zu können. Ihr wichtigstes Argument: Nur so können die Autobauer die Veränderungen im Hinblick auf Digitalisierung, autonomes Fahren und E-Mobilität bewältigen.