Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Spielen, immer weiterspielen
Knapp 80 Partien absolvieren die Handball-Nationalspieler pro Jahr – wie sie das schaffen
KÖLN - Handball, überall Handball und Euphorie: Deutschland ist im WM-Fieber. Die Nationalmannschaft begeistert, das Halbfinale ist sicher, Tausende fiebern in der Halle mit Kapitän Uwe Gensheimer und Kollegen, Millionen Menschen schauen die Spiele im TV. Die Sportart begeistert über ihre sonstigen Grenzen hinaus. „Zuerst haben nur die Handballer geschaut, dann die Familien, jetzt alle“, fasste DHB-Vizepräsident Bob Hanning angesichts der TV-Quoten von über zehn Millionen Zuschauern und 30 Prozent Marktanteil zusammen. Und auch die Vereine spüren bereits einen Aufschwung. Friede, Freude, HandballBoom also? Alles perfekt in der Wintermärchen-Welt? Mitnichten. Was bei all den Lobeshymnen in den Hintergrund rückt, ist die Belastung der Hauptakteure. Superstar Nikola Karabatic, nach auskurierter Fußverletzung wieder beim französische WMTeam, brachte es auf den Punkt: „Im Handball bekommst du frei, wenn du verletzt bist.“Er wolle aber „nicht jammern. Die Leute denken sonst, wir sind Weicheier.“Doch sind die Handball-Recken alles andere als das. Eine Belastungs-Liste:
Handball-Bundesliga:
Die bei den deutschen Topclubs beschäftigten Nationalspieler (lediglich Gensheimer spielt in Frankreich bei Paris St. Germain) sind im Dauereinsatz: Auf bis zu 80 Spiele kommen sie in einer Saison. Liga, Pokal, Europacup, dazu jede Saison eine WM oder EM und alle vier Jahre Olympische Spiele – ein enormes Pensum. Die Sommerpause? Zuletzt nur drei Wochen lang. „Wer in Deutschland spielt, ist nach der Saison körperlich am Ende“, sagte DHB-Kreisläufer Hendrik Pekeler der „Sport Bild“: „Hier wird schon lange nicht mehr im Interesse der Sportler sondern nur der Funktionäre entschieden.“Die HBL lehnt eine Reduzierung der Liga ab. Hauptargument: Die Vereine sind auf die Einnahmen der Spiele angewiesen.
Weltmeisterschaft:
Der kommende Weltmeister – sowie die auf den Plätzen zwei bis vier positionierten Teams, darunter auf jeden Fall Deutschland – wird am Ende des kräftezehrenden Turniers zehn Spiele in den Knochen haben. Und das innerhalb von etwas mehr als zwei Wochen. In Berlin bestritten Torhüter Andreas Wolff und Kollegen ihre fünf Vorrundenspiele in acht Tagen, die drei Hauprundenspiele verteilten sich auf fünf Tage, die beiden Finalrunden auf nochmals vier Tage. Folge: Dauerstress für Körper und Geist. Zum Vergleich: Bei der Fußball-WM in Russland bestritten die Teams im Schnitt alle vier Tage ein Spiel. Und ein Ende ist nicht in Sicht, eher das Gegenteil: Durch die Aufstockungen der WM (von 24 auf 32) ab 2021 und der EM (von 16 auf 24) ab 2020 wird der Zeitplan noch enger.
Verletzungen:
Mit im Schnitt 2,8 Verletzungen pro Jahr und 30 Tagen Ausfallzeit seien die Handballer deutlich gefährdeter als Fußballprofis (2,4/24), erklärte Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln der ARD. Leichte Blessuren werden meist weggelächelt. Pferdeküsse, Schwellungen und verstauchte Finger gehören zum Tagesgeschäft und werden intern nicht mal als Verletzungen angesehen. „Unsere Physios schieben nach Spielen oft Nachtschichten“, sagt Gensheimer. Bei ihm selbst seien die Sprunggelenke lädiert, sie werden vor jedem Spiel getapt. „Dass das alles nicht gesund ist, wissen wir“, sagt Gensheimer. Es ändert jedoch nichts.
Regeneration:
Kaum ist ein WMSpiel vorbei, läuft Teamarzt Kurt Steuer mit einem großen Messbecher durch die Mixed Zone. Noch während die Spieler Interviews geben, werden sie mit einem breiartigen Smoothie versorgt. Was dieser enthält? „Keine Ahnung, hoffentlich nichts Verbotenes. Schmeckt jedenfalls nach Erbeere“, scherzte Torhüter Wolff. Bekannt ist, dass das Getränk Haferflocken, gehackte Mangostücke und kalziumhaltiges Mineralwasser enthält. Und auch danach geht die Regeneration weiter. Sauna, ein Eistonnenbad, viel Schlaf, vom Sport abschalten und vor allem eine Belastungssteuerung in den nicht so umkämpften Spielen sind Standard. „Morgens merkt man zwar die typischen Wehwehchen, aber wenn die ersten Schritte gemacht sind, der Körper in Fahrt ist, dann geht es“, sagt Abwehr-Ass Patrick Wiencek lapidar.
Das Selbstbild:
Die Aussage Wienceks passt zum Selbstverständnis der meisten Handballer. „Natürlich haben wir jetzt ein paar Körner weniger als am Anfang der WM, aber immer noch genug Pfeile im Köcher“, meint Wiencek, genannt Bamm Bamm,. Und so ein bisschen stolz sind sie schon auf ihre Härte gegen sich selbst. Als Turnier-Neuling Franz Semper von Fieber geplagt das Bett hütete, sagte Torhüter Silvio Heinevetter lächelnd: „So ein bisschen Schüttelfrost ist kein Grund, nicht zu spielen. Und auch keine Ausrede wie in anderen Sportarten.“
Handballer eben, eine Spezies für sich – trotz oder gerade wegen des dauerhaften Spielens am Anschlag.