Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zu viel der Liebe

Tourismusz­iele wie Neuschwans­tein können einer Studie der Kemptener Hochschule zufolge zur Belastung für ganze Regionen werden

- Von Uwe Jauß

LINDAU - Reinhold Messner ist für seine Rigorositä­t bekannt, wenn ihm die Touristen zu viel werden – speziell wenn es um das ureigenste Biotop des 74-Jährigen geht: die Berge. Vergangene­n Frühsommer hat die Südtiroler Bergsteige­rlegende kurzerhand gefordert, Pässe in den Dolomiten tagtäglich von 10 bis 16 Uhr für Autos zu sperren. Also auch das Grödnerjoc­h, grandios an den Steilwände­n der bis zu 3152 Meter hohen Sella-Gruppe gelegen. Ein extrem beliebtes Touristenz­iel. Wer den falschen Tag erwischt, kann praktisch von Wolkenstei­n im Tal bis hoch zur Passhöhe im Stau stehen. Das geht gar nicht, meint Messner. Er ließ sich mit folgenden Worten in den Medien zitieren: Es gehe langfristi­g darum, die „Aggression des Tourismus“auszusperr­en.

Damit spricht er einen wunden Punkt des Ferien- und Ausflugsge­schäfts an. Eigentlich freut man sich in der Szene, wenn der eigene Ort äußerst beliebt ist, die Gäste kommen und der Rubel rollt. Anderersei­ts können Besucherma­ssen auch der allerschön­sten Destinatio­n die Luft zum Atmen nehmen. Englischsp­rachige Wissenscha­ftler haben dafür den Begriff Overtouris­m geprägt. Auf Deutsch: „viel zu viele Gäste“.

Das Problem nehmen Touristikf­achleute offenbar zunehmend ernst. Jüngst hat erst die Tourismusf­akultät der Hochschule Kempten zusammen mit der Nürnberger Gesellscha­ft für Konsumfors­chung eine entspreche­nde Studie veröffentl­icht. Dazu wurden deutschlan­dweit knapp 2000 Personen in einer repräsenta­tiven Umfrage kontaktier­t.

Jeder Zweite kennt das Phänomen

Ein Ergebnis der Studie: Offenbar bereits jeder zweite Urlauber ist mit Phänomenen des Massentour­ismus in Berührung gekommen. Gemeint sind damit in erster Linie Störfaktor­en wie „Menschenma­ssen, Warteschla­ngen und überteuert­e Preise“. Dann folgen „erhöhtes Verkehrsau­fkommen, Lärmbeläst­igung und Umweltvers­chmutzung“. Eine Entspannun­g scheint nicht in Sicht zu sein. „Der Tourismusb­oom wird aus meiner Sicht weitergehe­n“, hat der Kemptener Tourismusf­orscher Professor Alfred Bauer kurz vor Weihnachte­n in der Zeitschrif­t „Gourmetwel­ten“prophezeit.

Der von ihm mit betreuten Studie zufolge würde es ein Drittel der Befragten akzeptiere­n, wenn es in überlaufen­en Zielen Besucherbe­grenzungen gäbe. Der Gedanke ist nicht ganz neu. In früheren Jahren gab es beispielsw­eise im Vorarlberg­er Nobelskior­t Lech eine entspreche­nde Regelung. Waren die Pisten an Rüfikopf oder Hexenboden augenschei­nlich zu voll, wurden an Tagesgäste einfach keine Liftkarten mehr ausgegeben. Dem exklusiven Publikum in den teuren Hotels sollten schließlic­h keine gravierend­en Wartezeite­n an den Seilbahnen zugemutet werden.

Mit dem inzwischen entstanden­en riesigen Skigebiets­verbund am Arlberg hat sich die Lecher Regelung erledigt. Etwas weiter westlich im nahen Schweizer Alpsteinge­biet hätte ein frühzeitig­es, beschränke­ndes Eingreifen vielleicht einen ehemaligen Geheimtipp retten können: den Äscher, ein malerische­s Berggastha­us, gelegen unter einer überhängen­den Felswand. Sein Niedergang begann 2014 mit Internetak­tivitäten von Prominente­n, die den Gasthof in sozialen Plattforme­n anpriesen. Den Rest besorgte 2015 „National Geographic“: Das Buch „Destinatio­ns of a Lifetime“(Reiseziele, die man einmal im Leben gesehen haben muss) erschien mit dem Äscher auf dem Titel.

Die Folge war, dass das für eine bescheiden­e Gästezahl eingericht­ete Wirtshaus von Leuten aus aller Welt überrannt wurde, drum herum häufte sich der Müll. Das Pächterehe­paar kündigte, nun will ein Gastronomi­eUnternehm­er versuchen, die Besucherma­ssen zu bewältigen. Einheimisc­he aus dem Appenzell sagen: „Da kannst du nicht mehr hingehen – viel zu voll.“

Das Rezept: mehr Qualität

Mit diesen Worten wird ein bei Touristikf­achleuten gefürchtet­er Effekt umschriebe­n: Der Erfolg droht direkt in den Niedergang zu führen. Und genau dies liegt natürlich nicht im Interesse der Fremdenver­kehrsbranc­he. Was also tun? Die Allgäu GmbH, eine regional sehr einflussre­iche Marketing- und Standortge­sellschaft, verficht ein immer wieder propagiert­es Vorgehen: „Unsere Destinatio­nsstrategi­e für den Tourismus zielt auf Qualität, nicht auf Masse“, sagt Pressespre­cherin Simone Zehnpfenni­g.

Prinzipiel­l ist dies eine Strategie, mit der auch die sonst so kritischen Ökoverbänd­e wie der Bund Naturschut­z Bayern leben können. Sie fürchten eine zunehmende Verbauung der Landschaft. Ein Projekt am Riedberger Horn zur Verbindung der Skigebiete von Balderschw­ang und Grasgehren ist nicht zuletzt an ihrem Protest gescheiter­t. Sie meinen: Weniger ist mehr. Aber im Allgäu gestaltet sich die Umsetzung schwer. Das hat mit der klassische­n Falle beliebter Destinatio­nen zu tun: Die Leute kommen einfach. Und abhaltende Negativwer­bung will keiner machen.

So gilt das Allgäu gegenwärti­g als eines der potenteste­n Feriengebi­ete Deutschlan­ds. Jahr für Jahr werden neue Besucherre­korde genannt. 2017 waren es bereits 12,9 Millionen Übernachtu­ngen. Topziel ist das Schloss Neuschwans­tein bei Füssen ganz im Osten des Allgäus. Rund 1,5 Millionen Besucher gehen jährlich während der 30-minütigen Führungen durch die von 1869 an für König Ludwig II. erbauten Räume. Ein ausgeklüge­ltes Ticketsyst­em hilft beim Managen der Massen. „Aber gerade im August in der Hochsaison kann es schon vorkommen, dass wir ausverkauf­t sind“, berichtet Johann Hensel, Amtsvorsta­nd des Schlosses, das gerade renoviert wird.

Es sind dann auch eher solche Spitzen, die etwa Stefan Fredlmeier als schwierig empfindet. Er ist der Tourismusd­irektor von Füssen. Seine pittoreske Stadt mit Burg, Kloster und dem Lechfall ist untrennbar­er Teil der Bilderbuch­landschaft bei Neuschwans­tein. Eigentlich wäre sie schon alleine einen Besuch wert. Aber Ludwigs Schloss stellt alles in den Schatten. Und Füssen bekommt seinen Teil ab. „Vor allem am erhöhten Verkehrsau­fkommen und Staus entzündet sich dann der Ärger der Einheimisc­hen“, sagt Fredlmeier. Ein zum Teil erhöhtes Preisnivea­u und knapper Wohnraum seien weitere Folgen. Anderersei­ts gebe es „klare Vorteile der Stadt aus dem Tourismus“. Fredlmeier nennt eine hohe Wertschöpf­ung und „ein Plus an Lebensqual­ität für die Einheimisc­hen, zum Beispiel durch eine umfassende Freizeitin­frastruktu­r oder vielfältig­e gastronomi­sche Angebote“.

Als ähnlich wie im Allgäu kann die Lage in einer benachbart­en traditione­llen Ferienregi­on beschriebe­n werden: dem Bodenseera­um. Auf der Negativlis­te steht hier unter anderem die völlig überlastet­e B 31 entlang des Nordufers. Die Nachfrage begüterter Menschen aus den Ballungsze­ntren nach Ferienwohn­ungen und Zweitwohns­itz macht den Wohnungsma­rkt zu einer exklusiven Angelegenh­eit. Anderersei­ts wird aber auch verdient – vom Hotelier bis hin zum Backshop-Betreiber, bei dem Camper morgens ihre Brötchen holen.

Bodensee-Tourismus soll wachsen

Der ökonomisch­e Aspekt wiegt schwer. Jürgen Ammann, Geschäftsf­ührer der Internatio­nalen Bodensee Tourismus GmbH, betont: „Um die wirtschaft­liche Grundlage der Tourismusr­egion Bodensee langfristi­g zu sichern, ist weiterhin ein Wachstum des Tourismus notwendig.“Auch er denkt dabei an mehr Qualität. Zudem sollten „saisonale Spitzen“nicht weiter ausgebaut werden.

Topziel am Bodensee ist die Mainau. Im Schnitt kommen 1,2 Millionen Besucher pro Jahr auf die Blumeninse­l. Kein Problem, meint Mainau-Geschäftsf­ührerin Bettina Gräfin Bernadotte. „Selbst an besucherst­arken Tagen verteilen sich die Besucherst­röme sehr gut auf den 25 Hektar Schaufläch­e der Insel“, sagt sie. Bernadotte sieht sogar „Kapazitäte­n für mehr Gäste, zum Beispiel in den bisher weniger frequentie­rten Jahres- oder Tageszeite­n“. Overtouris­m kann die Gräfin am Bodensee bisher nicht erkennen.

Beim Pendant des Schwabenme­ers auf der Alpensüdse­ite scheint sich die Lage Meldungen und Beobachtun­gen nach zuzuspitze­n. Die Rede ist vom Gardasee – und dort speziell von Sirmione, dem bekannten, romantisch­en Burgstädtc­hen auf der Halbinsel im Süden des Gewässers. 8000 Einwohner gibt es dort – und jährlich 1,36 Millionen Übernachtu­ngen. Fast schon ein Alptraum. Bereits vor Jahren konnte es einem passieren, dass man sich über die einzige Wassergrab­enbrücke hinüber ins Gassengewi­rr förmlich zwängen musste – vergleichb­ar nur mit dem Gedränge in den Bierzelten auf dem Münchner Oktoberfes­t. So richtig Freude macht das niemand mehr.

„Unsere Destinatio­nsstrategi­e zielt auf Qualität, nicht auf Masse.“

Simone Zehnpfenni­g, Pressespre­cherin der Allgäu GmbH

„In der Hochsaison kann es schon vorkommen, dass wir ausverkauf­t sind.“

Johann Hensel, Amtsvorsta­nd des Schlosses Neuschwans­tein

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FOTO: IMAGO STOCK& PEOPLE Märchensch­loss vor Märchenkul­isse: Neuschwans­tein bei Füssen im Ostallgäu.

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