Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Zwei Lesarten
François-Xavier Roth und die Wiener Symphoniker beim Meisterkonzert in Bregenz
BREGENZ - Zwei Schlüsselwerke des 19. Jahrhunderts erklangen beim Meisterkonzert in Bregenz. Unter der Leitung des renommierten Dirigenten François-Xavier Roth spielten die Wiener Symphoniker die Sinfonie „Harold en Italie“von Hector Berlioz. Den Solopart für Viola, der diesem Werk sein spezifisches Gepräge gibt, übernahm der französische Bratschist Antoine Tamestit. Nach der Pause folgte Beethovens dritte Sinfonie.
Als Roth zu Beginn des Konzerts den Einsatz für die Anfangstakte von Berlioz’ „Harold“gab, fragte man sich verwundert, wo denn der Solist bleibe. Erst während des düsteren Vorspiels betrat Tamestit im Dunkel unauffällig die Szene und schaute sinnend wie der Protagonist einer imaginären Oper in die Runde. Dann kam er langsam vor das Orchester, wo ein Harfenist auf ihn wartete, um den nunmehr sacht ertönenden Gesang der Solobratsche sensibel zu begleiten. Sanft hallten Echoklänge in den Streichern nach.
Dezente Schadensbekämpfung
Für kurze Irritation sorgten Trübungen der Intonation gegen Ende des ersten Satzes. Ihre Ursache zeigte sich jedoch bald. Weil eine Saite von Tamestits Instrument gerissen war, musste es schnell gegen das eines Orchesterbratschisten getauscht werden, während hinter der Bühne eine neue Saite aufgezogen wurde. Rechtzeitig zum zweiten Satz konnte Tamestit seine Bratsche zur Feinstimmung wieder entgegennehmen. Das alles geschah so dezent, dass die musikalische „Erzählung“nicht litt.
Anders als Berlioz’ berühmte „Symphonie fantastique“ist „Harold en Italie“relativ selten zu hören. Um Situationen, in die der Titelheld gerät, poetisch zu gestalten, hat der Komponist äußerst differenziert instrumentiert. Für die Klangbalance ergeben sich daraus heikle Stellen. Roth meisterte sie mit Tamestit und den Wiener Symphonikern souverän. Das quasi szenische Arrangement passte gut zu Berlioz’ Konzeption einer Raummusik zwischen Konzert und Theater. Als Zugabe spielte Tamestit das für Bratsche adaptierte Prelude aus Bachs Cellosuite Nr. 1 mit herrlich leicht über die Saiten schwebenden Arpeggien.
Bei der Eroica war nicht zu überhören, dass das Orchester sich in letzter Zeit unter seinem Chefdirigenten Philippe Jordan mit den Sinfonien im Zuge einer Gesamteinspielung intensiv beschäftigt hat. Mehrfach entstand der Eindruck, Roth wolle seine eigene interpretatorische Auffassung gegen Lesarten aus dieser Phase verwirklichen. Das Ergebnis blieb stellenweise in der Schwebe zwischen gewohntem Duktus und den von ihm geforderten Finessen.
Im Kopfsatz reizte Roth Dehnungen stark aus. Manche Details hätten bei extremen Verzögerungen in den Einzelstimmen um so präziser umgesetzt werden müssen. Auch Bläser und Streicher sprachen bei gemeinsamen Einsätzen nicht immer gleichzeitig an. Im Trauermarsch warfen die Bässe schwere Klangschatten ins gedämpfte Marschieren. Einzelne Sforzato-Schläge brachen schmerzlich in die verhaltene Konduktstimmung ein. Subtil wurde am Ende die Fragmentierung einzelner Motive als Auslöschung ihrer Substanz zelebriert.
Das Scherzo raste mit brillanter Verspieltheit dahin, es klang nach Aufbruch in eine neue Welt. Im Finalsatz überraschte die solistische Realisierung einer Variation mit Streichquartett – eine geniale interpretatorische Idee. Roth gelang eine elaborierte Darstellung mit plastisch geformten Übergängen. Nach verspäteten Neujahrswünschen für das begeisterte Publikum erklang als Zugabe das überschäumende Farandole-Finale aus Bizets zweiter „Arlésienne“Suite.