Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Lüge vom guten Tod
„Nebel im August“ist ein Spielfilm über die Krankenmorde in der NS-Zeit am Beispiel des Ernst Lossa
RAVENSBURG - „Nebel im August“ist ein Film, den man lange nicht vergisst. Er beruht auf der wahren Geschichte des Ernst Lossa: 12-jährig kam er 1942 in die „Heil- und Pflegeanstalt“Kaufbeuren, weil er als „schwer erziehbar“galt. Zwei Jahre später wurde der aufgeweckte Junge in der Außenstelle Irsee durch eine Giftspritze getötet. Vermutlich auch, weil er das System durchschaut hatte, dass Kranke im Rahmen der „Euthanasie“in der Anstalt umgebracht wurden. Kai Wessel ist 2016 ein berührender Spielfilm gelungen mit einem eindringlich spielenden Ivo Pietzcker in der Titelrolle. Der Film hat am Sonntag, 22 Uhr, seine Premiere im ZDF. Ab sofort ist er in der ZDF-Mediathek zu sehen.
Bestimmte Menschen als „Schädlinge“zu begreifen, die man „ausmerzen“muss, gehörte zum Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Neben Juden galten Menschen mit psychischen oder physischen Behinderungen, überhaupt alle, die anders waren, als „unwertes Leben“. Sechs Millionen Juden wurden ermordet, aber auch viele andere Menschen, die nicht dem NS-Ideal entsprachen. 300 000 Kranke und Behinderte fielen der sogenannten Euthanasie zum Opfer.
Hier im Süden gab und gibt es bis heute viele psychiatrische Einrichtungen. Auch viele Patienten aus den „Heil- und Pflegeanstalten“Weissenau, Zwiefalten, Günzburg, Kaufbeuren oder Haar wurden getötet. Zunächst brachte man sie in der „Aktion T4“mit Bussen in die Tötungsanstalten Grafeneck oder Hadamar. Das Denkmal der Grauen Busse erinnert daran. Als es Proteste gegen die „Aktion T4“gab, wurden die Anstaltsleiter angehalten, sich etwas anderes zu überlegen. Und sie waren durchaus erfinderisch: Sie töteten ihre Patienten durch Gift oder ließen sie verhungern. Die Kranken – oder besser: für krank Erklärten – bekamen ein Essen ohne Nährstoffe. In ihrer Perfidie hatten die NS-Funktionäre dafür einen Begriff erfunden: „Entzugskost“, abgekürzt: „E-Kost“.
Es ist keine geringe Leistung, wenn ein erzählendes Format wie ein Spielfilm auch noch solche Sachinformationen transportiert. Aber genau das gelingt Kai Wessel in „Nebel im August“. Vorlage für den Film ist der gleichnamige Roman von Robert Domes. Der Autor (57) lebt heute in Irsee, aber die Beschäftigung mit der Geschichte der Anstalt geht auf seine Zeit als Lokalredakteur in Kaufbeuren zurück. Dort ist er auch Michael von Cranach begegnet. Der war zu jener Zeit Leiter des Landeskrankenhauses Kaufbeuren und gehört wie Paul Otto Schmidt-Michel von der ZfP Weissenau zu jener Generation von Psychiatern, die viel getan haben für die historische Erforschung ihres Faches in der NS-Zeit.
Cranach hat den Fall Ernst Lossa wieder ausgegraben. Denn die Geschichte des Jungen aus einer Familie von Jenischen – reisenden Hausierern, die von Nazis als „Zigeuner“verfolgt wurden – ist schon während der amerikanischen Besatzungszeit gut dokumentiert worden. Die Akten dienten als Anklageschriften für verschiedene Prozesse unter anderem gegen den ärztlichen Direktor Valentin Faltlhauser und die Krankenpflegerin Pauline Kneissler. Zwischen
1200 und 1600 Patienten, darunter
210 Kinder, aus der Anstalt Kaufbeuren sollen getötet worden sein. Angesichts dessen sind die Strafen skandalös. Faltlhauser wurde im Juli
1949 lediglich wegen „Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag“zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, die aber mit der Internierung verrechnet wurde. Im Dezember 1954 wurde er begnadigt. Pauline Kneissler, die an Tötungen in Hadamar, Grafeneck, Kaufbeuren und Irsee beteiligt war, bekam als „Gehilfin“vier Jahre Zuchthaus, von denen ihr am Ende drei erlassen wurden.
Wie ihr Chef versuchte sie ihr Handeln als barmherzige Tat darzustellen. Faltlhauser wird in den Prozessakten mit dem Satz zitiert: „Mein Handeln geschah jedenfalls nicht in der Absicht eines Verbrechens, sondern im Gegenteil von dem Bewußtsein durchdrungen, barmherzig gegen die unglücklichen Geschöpfe zu handeln, in der Absicht, sie von einem Leiden zu befreien, für das es mit den heute bekannten Mitteln keine Rettung gibt, also als wahrhaft und gewissenhafter Arzt zu handeln.“
Außerordentliche Kinderdarsteller
In Buch und Film ist aus Faltlhauser Dr. Veithausen geworden. Sebastian Koch spielt ihn als überzeugten Nationalsozialisten, der von „Erlösung“spricht, wenn er Tötung meint. Andererseits zeigt er aber auch einen Menschen, der mit seiner ruhigen, freundlichen Art durchaus ankommt bei den Kindern. Seine Gegenspielerin ist die Ordensschwester Sophia, dargestellt von Fritzi Haberlandt. In ihr erkennt der junge Ernst Lossa eine Verbündete. Es sind starke Szenen, wie diese Frau versucht, sich gegen das System zu wehren. Die Rolle der skrupellosen Krankenschwester ist mit Henriette Confurius besetzt – ein schöner Todesengel. Alle Kinderdarsteller sind ganz außergewöhnlich – ungekünstelt, berührend. Aber Ivo Pietzcker überragt alle. Der inzwischen 17-jährige Berliner versteht es, unpathetisch großes Leid darzustellen.