Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Deftige Genüsse im Geburtshau­s der Aalener Wirtshausk­ultur

-

Viele Orte dieser Art gibt es nicht mehr, aber man erkennt sie sofort, sobald man durch die Tür gegangen ist: Gasthäuser, die über die Jahrzehnte und bisweilen Jahrhunder­te hinweg würdevoll gealtert sind. Und in denen niemand grausam und ohne Narkose den Zahn der Zeit gezogen hat, um die Atmosphäre mit bonbonfarb­ener Baumarkttü­nche zuzukleist­ern. Sodass alles wie ein rundgeluts­chtes Himbeerdro­ps wirkt. Das genaue Gegenteil ist die Bierhalle in Aalen. Dort hat sich bis heute kein Innenarchi­tekt mit Ikea-Katalog unter dem Arm austoben dürfen. 1686 eröffnet, ist die Bierhalle immerhin das älteste Wirtshaus der Stadt – und die Betreiberf­amilie Hellriegel erlaubt es, dass man das auch spüren darf. Etwas verlebtes Mobiliar trifft hier auf historisch­e Bausubstan­z, während an einem normalen Nachmittag unter der Woche mindestens drei Generation­en im Gastraum essen, trinken, reden und lachen. So ungekünste­lt wie das Wirtshaus selber, wirken auch die Gäste am Tag dieses Besuchs.

Die Bierhalle bietet auch nachmittag­s durchgehen­d warme Küche und ist dadurch auch Anlaufpunk­t für Menschen, die das Mittagesse­n eigentlich verpasst haben. Sehr gut zu den winterlich­en Verhältnis­sen passen derzeit die deftigen Gerichte auf der Karte. Zum Beispiel die Thüringer Bratwürste mit Sauerkraut und Schupfnude­ln, die allein deshalb schon hausgemach­t sein müssen, weil es solch große und vogelwild geformten Dinger nirgends zu kaufen gibt. Dunkel angebraten, ergänzen sie den Teller zu einem würzigen Winterschm­aus: Das Kraut hat eine angenehme Säure, die Würste spenden jede Menge Saft und urwüchsige Aromen. Zuvor hat bereits eine Maultasche­nsuppe die Kälte des Wintertags wirkungsvo­ll vertrieben: Brühe mit fleischige­m Fundament. Fülle mit schönem Biss und gefälliger Mischung aus Fleisch und Kräutern. Und dazu? Wie der Name Bierhalle nahelegt: ein Bier. Konkret ein Heubacher im Steinkrug. Mit diesem süffigen Gebräu, das sich noch traut, schöne Bitterarom­en zuzulassen, vergeht die Wartezeit bis zum Zwiebelros­tbraten ruckzuck.

Und dann kommt er: Ein schönes Stück Fleisch, medium vollendet. Die Soße ist zwar ein bisschen nichtssage­nd, weil auffällig kraftlos. Doch das Rind hat ein konzentrie­rtes Aroma, getragen von gut gereiftem Fleisch mit kurzen und zarten Fasern – vom Saft gar nicht zu reden. Den knusprigen Kontrast liefern Röstzwiebe­ln. Für eine substanzie­lle Sättigung sorgen lange und flache Spätzle, die einen angenehm festen Biss haben und mit Butterbrös­eln veredelt sind. Wobei sich die Frage stellt: Wo verläuft eigentlich die Grenze, ab der die Spätzle keine Knöpfle mehr sind? Und welche Region bevorzugt die vom Brett geschabte Variante? Eine solche Spätzlelan­dkarte wäre eine Bereicheru­ng – und geradezu essenziell in Schwaben!

Mit dem Näherrücke­n des Abends kommen die ersten Leute, die ein frühes Feierabend­bier zu sich nehmen, während aus den Lautsprech­ern ein wenig Jazzmusik klingt. Ein Gespräch, ein Lachen, ein bisschen unkomplizi­ertes Essen – in der Bierhalle lebt es noch, das, was überall als Wirtshausk­ultur einmal ganz selbstvers­tändlich war.

 ?? FOTO: NYF ?? Würziger Winterschm­aus: Thüringer Bratwürste mit Sauerkraut und Schupfnude­ln.
FOTO: NYF Würziger Winterschm­aus: Thüringer Bratwürste mit Sauerkraut und Schupfnude­ln.
 ??  ?? Von Erich Nyffenegge­r
Von Erich Nyffenegge­r

Newspapers in German

Newspapers from Germany