Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
1 „Du musst tun, was du in deinem Herzen spürst“
Progressive-Rock-Virtuose Neal Morse über Gott, Glauben und musikalische Wege
Mit Spock’s Beard war Neal Morse in den 90ern Vorreiter des ProgressiveRock-Revivals, doch 2002 verließ er die Band – weil Gott es ihm so befohlen hatte, wie der Amerikaner damals sagte. Seither bestimmt christlich geprägte Musik das Schaffen des Sängers und Gitarristen. Auch seine neue Platte „The Great Adventure“macht da keine Ausnahme. Im Gespräch mit Daniel Drescher spricht der 58-Jährige über seinen Glauben, musikalische Pläne für die Zukunft – und die Chancen auf eine Reunion von Spock's Beard.
Euer neues Album „The Great Adventure“ist eine Fortsetzung von „The Similitude of A Dream“. Wie sind die Songs entstanden und wovon handelt die neue Platte?
Ursprünglich war „The Great Adventure“ohne Konzept angelegt. Es gab kaum Text, nur ein paar Zeilen. Aber dann saß ich da und dachte: Vielleicht ist es das noch nicht. Anfang Februar hatte ich dann auch die Idee, die Texte aus der Sicht des wütenden und verlassenen Sohnes (siehe Kasten) zu schreiben. Das war der Schlüssel zu der Platte. Dann habe ich im Frühjahr eine Neufassung erarbeitet, die zweieinhalb Stunden dauerte (lacht).
Lass uns über das Konzept sprechen. „The Similitude of A Dream“war eine musikalische Umsetzung eines Buchs von John Bunyan, „The Great Adventure“ist nun die Fortsetzung. Um was geht es?
Es geht um eine zweiten Reise: Diesmal aus der Sicht eines Pilgersohns, der in der Stadt der Zerstörung zurückgelassen wurde. Welche Gefühle würde das in einem auslösen, wenn sich der Vater auf die Suche nach Gott gemacht und seinen Sohn zurückgelassen hat? Der Sohn wäre vermutlich wütend auf Gott – nicht nur auf seinen Vater. Das fand ich überzeugend, denn auch ich war einige Jahre wütend auf Gott, das Gefühl war mir vertraut. Das Album ist stärker von Angst geprägt. Eine Menge Musik passte wirklich gut zu dem düsteren Konzept, zu Songs wie „Dark Melody“und „I’ve Got To Run“. Der Sohn wird ebenfalls von Gott gerufen und soll seinem Vater nachfolgen. Er hadert anfangs, entscheidet sich dann aber, aufzubrechen. Und die Reise wird dann eben zum namensgebenden großen Abenteuer seines Lebens.
Du hast erwähnt, dass es Zeiten in deinem Leben gab, als du wütend auf Gott warst. Wann war das?
Ich habe nicht an Gott geglaubt bis ich Ende 20 war. Und 1991, als ich 34 war, machte ich eine harte Zeit durch. Ich kam beruflich nicht voran, meine Beziehungen führten zu nichts. Ich trank immer mehr und wurde schwermütig. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine musikalische Begabung hatte und eine brennende Sehnsucht, diese Gabe mit den Menschen zu teilen. Aber niemand hörte mir zu. Ich hielt Gott für grausam, weil das so war.
Du hast mit Spock’s Beard das Progressive-Rock-Revival der 90er eingeläutet und in vielen anderen Bands gewirkt, von Transatlantic bis Flying Colors. Wenn man deine Musik hört, erkennt man deine Handschrift sofort. Wie verhinderst du, dass du dich selbst kopierst?
Ich umgebe mich mit Menschen, die mich darauf hinweisen. Mike Portnoy ist da wie ein Schiedsrichter: Ich höre mir meine eigene Musik nicht mehr an, wenn ich sie geschrieben und aufgenommen habe. Ich vergesse das meiste. Als ich ein paar Freunden das neue Album vorgespielt habe, sagte ein junger Kerl über „The Great Despair“: „Oh, „Cardboard People“, ist das ein Rückblick auf Spock’s Beard?“Mir war es nicht mehr bewusst, aber tatsächlich kommt die Formulierung in „Time Has Come“vor, dem letzten Stück auf dem Album „Beware of Darkness“. Das ist 25 Jahre her, ich hatte es völlig vergessen.
Du arbeitest seit langem mit Schlagzeuger Mike Portnoy zusammen und ihr seid gut befreundet. Wie beeinflusst die musikalische Arbeit eure Freundschaft?
Wir waren vor unserer musikalischen Zusammenarbeit noch keine Freunde, wir hatten nur mal telefonisch Kontakt gehabt. Er rief mich an, weil er ein musikalisches Projekt mit mir starten wollte. Das muss 1997 oder 1998 gewesen sein. Es dauerte ein paar Jahre, bis wir dann mit Transatlantic zum ersten Mal zusammen Musik machten. Wir trafen uns tatsächlich im Studio zum ersten Mal. Ich hab das Gefühl, dass unsere Freundschaft und unsere musikalische Partnerschaft getrennt voneinander existieren. Wir schätzen einander als Menschen und als Musiker. Aber wir fassen uns nicht mit Samthandschuhen an, nur weil wir Freunde sind.
Stichwort Transatlantic: Gibt es Pläne, wieder gemeinsam Musik zu machen?
Wir reden darüber, soviel kann ich sagen. Wir wollen 2020 ein Album veröffentlichen.
Und wie sieht es mit Flying Colors aus?
Ja, wir wollen im Lauf des Jahres eine Platte herausbringen.
Rockbands kokettieren oft mit okkulten Texten. Hörst du dir so etwas an, wenn dir die Musik gefällt, oder ist das für dich als Christen ein Tabu?
Die meiste Zeit ist es eher so, dass ich keinen Bezug mehr dazu habe. Auch Musik, die ich wirklich, wirklich mag. Alte Sachen von Steely Dan zum Beispiel: Die Texte sind so sarkastisch und dunkel. Ich hab dieser Tage „Countdown To Ecstasy“gehört und da gibt es diesen Song „Razor Boy“. Mir fiel auf, dass der Text einfach seltsam ist. Ich glaube jetzt nicht, dass der Teufel mich holen wird, wenn ich mir okkulte Rockmusik anhöre, aber ich kann einfach nichts mehr damit anfangen.
Das Vertrauen in die Institution Kirche hat weltweit gelitten, auch gläubige Menschen wenden sich ab. Trennst du zwischen Gottesglauben und organisierter Religion?
Ich bin Oberhaupt in unserer Kirchengemeinde hier, die nicht konfessionsgebunden ist. Wir sind nicht mit irgendeiner großen Organisation verbandelt. Ich würde nicht sagen, dass ich organisierter Religion gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt bin. Ich habe das Gefühl, dass Jüngerschaft das Wichtigste am Glauben ist und jeder muss das tun, was Gott ihm aufgetragen hat. Wenn sich Menschen berufen fühlen, einer Kirche anzugehören, sollten sie das tun. Das ist etwas zwischen Gott und dem Gläubigen. Lass Deine Schritte von Gott lenken.
Du hast deine Band Spock’s Beard 2002 verlassen, weil Gott es dir befohlen hat, wie du damals sagtest. Es gibt viele Fans, die das nicht nachvollziehen können.
Du musst tun, was du in deinem Herzen spürst. Es war nicht einfach, die Band zu verlassen. Aber es war richtig so und was seitdem passiert ist, war ein Segen. Ich bin unglaublich dankbar für alles, was in meinem Leben geschehen ist.
Wie läuft Songwriting eigentlich bei dir? Setzt du dich gezielt hin, um zu arbeiten?
Ich nehme ständig mit meinem Smartphone auf, was mir einfällt. Die Kreativität kommt auf alle möglichen Arten zu mir. Vor Kurzem wachte ich um vier Uhr morgens auf und es fühlte sich an, als ob Gott mir sagen will: Ich hab hier etwas für dich, geh und schreib es auf. Es ist mehr wie ein Gefühl, etwas in meinem Herzen. Dann wieder habe ich Einfälle, so etwa für „Ouverture“: Die Melodie fiel mir in Warschau ein – als ich gerade im Bad war.