Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schrecken der Wirklichkeit
Deutsches Kino auf der Berlinale 2019: Fatih Akin und Nora Fingscheidt strapazieren die Nerven des Publikums
BERLIN – Serienmörder und Horrorkind: In den beiden ersten deutschsprachigen Filmen, die bei der Berlinale am Wochenende Weltpremiere hatten, kommt der Schrecken aus der trivialen Realität. Fatih Akin liefert mit „Der Goldene Handschuh“einen polarisierenden Ekelschocker. Nora Fingscheidts Debütfilm „Systemsprenger“ist anstrengend, unkonventionell und sehr sehenswert.
Wer Quentin Tarantinos überspitzte Gewaltexzesse lächerlich findet, wird trotzdem nicht auf die Brutalität in „Der Goldene Handschuh“vorbereitet sein. Die wahre Geschichte des Serienmörders Fritz Honka, der zwischen 1970 und 1975 in Hamburg vier Frauen tötete, wird unter der Regie von Fatih Akin zum Horrorfilm. Schwer zu ertragen ist diese Adaption von Heinz Strunks gleichnamigem Roman über den deutschen „Jack The Ripper“.
Fritz Honka (Jonas Dassler) säuft sich in der Kiezkneipe Zum Goldenen Handschuh um den Verstand. Dort ertränken verkrachte Existenzen ihre Sorgen im Alkohol. Ab und an schafft es Honka trotz seiner körperlichen Defizite Frauen mit nach Hause zu nehmen; Stadtstreicherinnen, die für ein Dach über dem Kopf ihren Körper verkaufen. Sie ahnen nicht, dass sie sich damit in tödliche Gefahr begeben.
Der Film dauert keine Viertelstunde, da hat der schmächtige Verlierer schon sein erstes Opfer zersägt, weil er die Frauenleiche nicht in einem Stück die Treppe heruntergewuchtet bekommt. Später versteckt er Leichenteile in seiner Wohnung – und mit Wunderbäumen versucht er, den Verwesungsgeruch zu übertünchen. Der in Altona geborene Fatih Akin, der vor 15 Jahren mit „Gegen die Wand“den Goldenen Bären gewann, zeigt die sexuelle und tödliche Gewalt, die Honka seinen Opfern antut, auf drastische Weise. Die FSK verweigerte dem Film die Jugendfreigabe.
Getragen wird der Film von seinem Hauptdarsteller: Der 23-jährige Jonas Dassler wirft sich mit vollem Körpereinsatz in diese extreme Rolle. Alles möglichst realistisch wirken zu lassen, ist Akin auch bei den Szenen in der Kiezkneipe gelungen. Hier sind neben Schauspielern wie Hark Bohm (als „Dornkaat-Max“) auch echte Menschen vom Kiez zu sehen. Wenn die Verzweiflungstrinker zu den Klängen der Jukebox weinen, haben diese Momente durchaus emotionale Wucht.
Trotz allem wirkt „Der Goldene Handschuh“zu sehr auf Schockeffekte fixiert. Der Erkenntnisgewinn bleibt aus. Akin versucht nicht einmal, die Motive des Serienmörders auszuleuchten. Biografische Details wie den Unfall, der Honka entstellt hat und möglicherweise auch seine Persönlichkeit verändert hat, werden nicht erwähnt. So umgeht der Regisseur einerseits den Vorwurf, die Taten nachvollziehbar zu machen. Andererseits kann man ihm Effekthascherei ankreiden. Bleibt die Frage, wer sich das warum anschauen sollte.
Einer der originellsten Beiträge des Filmfestivals kommt von Regisseurin Nora Fingscheidt, die von 2008 bis 2017 Szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert hat. „Systemsprenger“klingt nach Hacker-Krimi, doch der Begriff wird in der Jugendhilfe inoffiziell für Kinder und Jugendliche benutzt, die so schwer erziehbar sind, dass alle Hilfsmaßnahmen versagen. Benni – kurz für Bernadette – ist genau das.
Ein Kind rastet aus
Die Neunjährige (gespielt von Helena Zengel) bleibt nie lange in einer Wohngruppe oder bei einer Pflegefamilie, stets kommt es zum Eklat und so wird sie hin- und hergeschoben, bis die Behörden an dem Kind verzweifeln. Auch die Mutter ist komplett überfordert mit ihrer Tochter, die nichts lieber will als endlich wieder zu Hause leben. Schließlich scheint der Anti-Gewalt-Trainer Micha einen Zugang zu Benni zu finden, als er sie zu einer Art Survival-Training mit in den Wald nimmt. Doch je stärker sich die Neunjährige auf ihn einlässt, desto mehr schwindet die professionelle Distanz – und einfache Lösungen gibt es nicht.
„Systemsprenger“ist genauso anstrengend wie seine Hauptfigur: Wenn Benni ausrastet und auf andere Kinder einprügelt, wird die Leinwand rosarot, die Musik hektisch und laut und die Kameraführung rasant. Man kann sich dem kaum entziehen. Mitunter ist „Systemsprenger“fast schon ein Horrorfilm, wenn Benni in bester „Exorzist“-Manier alte Menschen mit deftigen Kraftausdrücken beschimpft. Der Film würde aber nicht funktionieren, wenn er nicht eine fantastische Hauptdarstellerin hätte. Die elfjährige Helena Zengel spielt das Problemkind mit einer derart furiosen Mischung aus Explosivität und Verletzlichkeit, dass man sie im einen Moment auf den Mond schießen und im anderen tröstend in den Arm nehmen möchte.