Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Wir stellen uns auf Gegenwind ein“
Sabine Thor-Wiedemann spricht über ihre Arbeit am Drehbuch zur TV-Serie „Charité“
RAVENSBURG - Sabine Thor-Wiedemann (61) aus Weingarten hat zusammen mit Dorothee Schön aus Ravensburg schon das Drehbuch zur ersten Staffel der TV-Reihe „Charité“verfasst. Auch bei der zweiten Staffel arbeiteten die beiden zusammen am Script. Ab Dienstagabend werden die sechs neuen Folgen in der ARD gezeigt. Die promovierte Ärztin und Medizinjournalistin Thor-Wiedemann erzählt im Gespräch mit Katja Waizenegger davon, dass ihr historische Genauigkeit äußerst wichtig ist – und warum die beiden Autorinnen es dem Zuschauer nicht zu leicht machen möchten.
Wer hatte die Idee zu einer Fernsehserie über die Charité?
Dorothee Schön und ich hatten die Idee vor zehn Jahren, als die Charité ihr 300. Jubiläum hatte. Als wir davon gelesen hatten, war uns sofort klar, welch spannende Geschichten sich hier verbergen müssen, wenn ein Krankenhaus 300 Jahre lang ununterbrochen Kranke behandelt hat.
Wie sieht die Recherche zu einem historischen Spielfilm aus?
Wir lesen die vorhandene Literatur, die schon recht umfangreich sein kann. Dann gehen wir, soweit möglich, in Originalquellen. In der Charité gibt es zum Beispiel Verwaltungsakten, denen man einiges entnehmen kann. Dann ist da noch der Sauerbruch-Nachlass in der Staatsbibliothek Berlin. Der lagert ungeordnet in Umzugskartons, mit Korrespondenz, Vortragsmanuskripten, Fotos. Und dann haben wir eine, wie ich finde, sensationelle Quelle aufgetan, die bislang noch nicht historisch ausgewertet war: das Tagebuch von Professor Adolphe Jung, der 1943 bis 1945 als Oberarzt eng mit Sauerbruch zusammengearbeitet hat. Nicht freiwillig, sondern als zwangsverpflichteter Franzose aus dem Elsass. Bevor er an die Charité ging, war er übrigens kurz als Arzt in Pfullendorf tätig.
Wie sind Sie an diese Quelle gekommen?
Nun, über verschlungene Pfade haben wir den Sohn von Jung ausfindig gemacht, der im Elsass lebt. Ich bin dann dorthin gereist, und nach zweitägiger Überzeugungsarbeit hat er mir das Tagebuch ausgehändigt. Dessen Wert kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Denn es wurde während des Krieges verfasst, von einem Franzosen, sozusagen einem Feind. Jung und Sauerbruch haben viele politische Gespräche geführt, sie haben lange zusammengearbeitet und hatten auch privat Kontakt. Wir haben dieses Tagebuch mit den Historikern der Charité geteilt. Auch die eben erschienene Biografie von Christian Hardinghaus über Sauerbruch bezieht diese neue Quelle mit ein.
Wie ist nach der langen Recherche Ihr Bild von Sauerbruch in der Zeit des Nationalsozialismus?
Aus der Sekundärliteratur ergab sich ein Bild von Sauerbruch als einem überzeugten Nazi. Aber nachdem wir dieses Tagebuch und auch viele Briefe und Zeitzeugenberichte gelesen hatten, haben wir gemerkt, dass sich dieses Bild dort nicht bestätigt. Uns wurde klar, dass wir im Konflikt zur herrschenden Lehrmeinung stehen. Deshalb stellen wir uns auch auf Gegenwind nach der Ausstrahlung ein. Es wird Historiker geben, die sagen werden, dass wir die Rolle Sauerbruchs während der Zeit des Nationalsozialismus verharmlosen.
Wäre eine Dokumentation über dieses heikle Thema nicht der passendere Rahmen gewesen?
Mit einem fiktionalen Format können wir mehr Menschen erreichen. Wir legen aber allergrößten Wert darauf, dass die historischen und medizinischen Fakten stimmen. Damit machen wir uns bei der Produktion nicht immer Freunde. Dem Zuschauer wird manchmal einfach nicht zugetraut, dass er sich für Geschichte interessieren könnte. Aber es muss nicht immer eine junge Frau mit ihrer Liebesgeschichte im Mittelpunkt stehen.
Wird zum Beispiel der Kinderarzt Artur Waldhausen nicht zu sympathisch dargestellt?
Wir möchten es dem Zuschauer nicht zu leicht machen und die Figuren von vornherein in gut und böse einteilen. Waldhausen führt als Arzt Impfversuche an behinderten Kindern durch. Auf der einen Seite. Auf der anderen ist er ein netter „Onkel Doktor“, der sich rührend um seine Patienten kümmert. Wie andere Täter hat er den Ausmerzungsgedanken der Nazis verinnerlicht, nach dem Motto: „Es ist ja für alle besser.“Besser für die Volksgemeinschaft, besser für die Behinderten, wenn sie dieses Leben nicht leben müssen. Wir wollen nicht für Verständnis werben, sondern dieses innere Unbehagen beim Zuschauer hervorrufen, indem wir Waldhausen als eigentlich ganz netten Typen schlimme Dinge tun lassen. Damit sich der Zuschauer sagt: Ich bin doch eigentlich auch ganz nett. Würde ich so etwas auch tun?