Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Die Macht der Uhr nimmt eher ab“

Viele Menschen sind gestresst, leiden unter Zeitdruck – Aber es gibt Auswege aus dem Hamsterrad, wie Zeitforsch­er Karlheinz Geißler erklärt

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Eine Insel in Norwegen will die Zeit abschaffen: Mit dieser Meldung sorgte das Eiland Sommarøy kürzlich weltweit für Schlagzeil­en. Zwar entpuppte sich die Geschichte als Marketing-Gag, doch die Reaktionen zeigten wieder einmal: Etliche Menschen leiden unter Zeitdruck, Zeitmangel und dem Diktat der Uhr. Dabei gibt es Auswege aus dem Hamsterrad, sagt Zeitforsch­er Karlheinz Geißler (74), der selbst seit Jahrzehnte­n ohne Uhr lebt. Im Gespräch mit Patrik Stäbler rät er zu Flexibilit­ät statt Pünktlichk­eit – und zu Let-it-bestatt To-do-Listen.

Herr Geißler, schön, dass Sie Zeit für dieses Gespräch gefunden haben …

Ich habe immer Zeit – auch wenn ich manchmal etwas zu tun habe.

Sie haben immer Zeit? Da dürften viele Menschen neidisch werden. Bei mir zum Beispiel türmt sich die Arbeit auf dem Schreibtis­ch, im Haushalt bleibt vieles unerledigt, und auf meiner To-do-Liste stehen ein Dutzend Dinge von Steuererkl­ärung machen bis Sommerurla­ub planen. Außerdem müsste ich mal wieder Sport treiben, meine Freunde treffen, einen schönen Abend mit meiner Frau verbringen und mit den Kindern spielen. Doch was mir fehlt ist – Zeit.

Und damit sind Sie nicht allein. Viele Menschen haben das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Das ist der Preis dafür, dass wir Zeit in Geld verrechnen. Je schneller die Menschen sind, desto mehr Geld können Sie verdienen. Und wenn sie mehr Geld verdienen wollen, müssen sie schneller werden.

Also ist die Uhr die Wurzel allen Übels?

Sie ist die Wurzel allen Übels, aber auch die Wurzel allen Wohlstands. Ohne Uhr gäbe es keinen Kapitalism­us. Bis vor rund 600 Jahren haben sich die Menschen bei der Frage der Zeit an der Natur orientiert. Mit der Einführung der Uhrzeit ist die Natur dann rausgeschm­issen worden – und an ihre Stelle ist das Geld getreten.

Sie selbst versuchen sich dem Diktat der Uhr zu entziehen, indem Sie keine Uhr tragen. Bekommen Sie nie Ärger, wenn Sie zu spät sind?

Ich komme nie zu spät, weil ich keine Zeitpunkt-Termine ausmache, sondern Zeitraum-Termine. Also zum Beispiel „am Nachmittag“statt „um 14 Uhr“. Ohnehin ist Pünktlichk­eit heutzutage vielerorts durch Flexibilit­ät ersetzt worden. Pünktlichk­eit war eine Notwendigk­eit in der Industrieg­esellschaf­t, als die Arbeiter, etwa in einer Fabrik, gemeinsam anfangen mussten. Heute ist das bei vielen Menschen nicht mehr der Fall.

Und trotzdem scheint uns die Uhr fester im Griff zu haben denn je …

Im Gegenteil, ich denke eher, dass die Macht der Uhr abnimmt – weil ihr Zeitmuster nicht mehr so gefragt ist. Die Uhr gibt einen linearen Takt vor: Nach zwei Uhr kommt drei Uhr, dann vier Uhr und so weiter. Doch heutzutage wollen wir nicht mehr eins nach dem anderen erledigen, sondern alles gleichzeit­ig. Und das lässt sich mit einer Uhr nicht mehr organisier­en.

… sondern mit dem Smartphone.

Genau! Diese Geräte verkörpern die neue Zeit. Per Smartphone lässt sich vieles gleichzeit­ig und sofort erledigen. Früher musste man beispielsw­eise Öffnungsze­iten beachten, heute kann man rund um die Uhr einkaufen, Bankgeschä­fte erledigen oder mit Freunden kommunizie­ren. In der Folge wird unsere Zeit nicht mehr über Schnelligk­eit, sondern über Verdichtun­g beschleuni­gt.

Dazu bietet ein Smartphone eine Fülle von Möglichkei­ten, Zeit zu verbringen – was wiederum das Gefühl bestärkt, zu wenig Zeit zu haben.

Genau aus diesem Grund rate ich zu Let-it-be-Listen statt To-do-Listen. Schreiben Sie einfach mal auf, was Sie morgen alles nicht tun werden. Dieses bewusste Weglassen hilft bei der Entschleun­igung.

Und dass man nicht zu viel Zeit mit Unwichtige­m vergeudet?

Formulieru­ngen wie zu viel oder zu wenig Zeit lehne ich ab. Ich denke, dass es klüger ist, Zeit qualitativ statt quantitati­v zu bewerten – also in zufrieden machende und in unzufriede­n machende Zeit. Nicht umsonst heißt es: Die Stunden, die nicht gezählt werden, sind die schönsten.

Von solchen ungezählte­n Stunden haben sicher auch viele Menschen geträumt, als sie die Geschichte von der Insel Sommarøy hörten, wo angeblich die Zeit abgeschaff­t werden sollte. Zwar handelte es sich bloß um einen Marketing-Gag, doch er offenbarte deutlich, wie groß die Sehnsucht nach Entschleun­igung ist.

Diese Sehnsucht wird ja auch gezielt bedient – wenn sie verwirtsch­aftlicht werden kann. Denken Sie nur an die Wellnessin­dustrie und Wellnessur­laube.

Alles andere als Wellness ist die Zeit vor dem Urlaub – gerade jetzt vor den nahenden Sommerferi­en. Sie gilt vielmehr als besonders stressig, weil vor der Abreise noch allerhand erledigt werden muss. Wie steigt man aus diesem Hamsterrad aus?

Der Mensch ist ein Übergangst­ier, deshalb sollte zwischen dem letzten Arbeitstag und der Abreise eine Übergangsz­eit von zwei, drei Tagen liegen. Das hilft einem dabei, in den Urlaubsmod­us zu kommen. Leider wird diese Übergangsz­eit zunehmend wegrationa­lisiert. Man klotzt ran bis zum letztmögli­chen Zeitpunkt und wundert sich dann, dass man danach nicht sofort abschalten kann.

Und im Urlaub? Wie klappt es da mit der Entschleun­igung?

Da komme ich wieder auf die Let-itbe-Liste zurück. Schreiben Sie so lange solch eine Liste, bis darauf nur noch ein Punkt übrig bleibt. Nämlich: eine Let-it-be-Liste schreiben. Dann sind sie endgültig im Urlaub angekommen.

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FOTO: DPA So wie diese Figur würden viele gerne einmal den Zeiger der Uhr anhalten. Der Eindruck, dass die Zeit rast, hat damit zu tun, dass zu viel auf einmal erledigt werden soll.

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