Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Historische Eintracht im Bundestag
Kanzlerin in Quarantäne, Regierungsmehrheit dank Opposition – Corona krempelt das Hohe Haus um
BERLIN - Es ist Ende März 2020. Ganz Deutschland meidet größere Gruppen. Ganz Deutschland? Nein, am Mittwoch kommt der Bundestag mit mehreren Hundert Abgeordneten in Berlin zur Sitzung zusammen.
Es geht wohl nicht anders, denn wegen der Corona-Krise stehen historische Entscheidungen an: Der Bundestag will billionenschwere Hilfen und Rettungsschirme für Selbstständige, Unternehmen, Familien, Krankenhäuser und andere Betroffene verabschieden. Und er muss mit der „Kanzlermehrheit“von mindestens 355 Abgeordneten eine außergewöhnliche Notsituation feststellen, um die grundgesetzlich garantierte Schuldenbremse aussetzen zu können.
Teile der Opposition werden mit der Regierung stimmen, denn angesichts erkrankter, unter Quarantäne stehender oder aus Vorsicht im Wahlkreis bleibender Abgeordneter ist die Kanzlermehrheit der Koalition nicht sicher. Grüne und Linke haben allerdings schon Zustimmung zur Notsituation signalisiert.
„Es ist wichtig, dass wir handlungsfähig sind“, sagte Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus am Dienstag in Berlin, die anderen Fraktionen äußern sich selbst. Die Botschaft ist klar: Das Parlament will auch in dieser Zeit nicht die Kontrolle über die Regierung abgeben.
Das zeigt sich auch an vermeintlichen Kleinigkeiten. „Wir haben verhindert, dass die Bundesregierung einen Epidemiefall ohne den Bundestag ausrufen kann“, sagt die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt nach einem Treffen von Grünen, Linken und FDP mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Montagabend. Das Parlament will sagen, wann Epidemie ist. Und auch, wann sie offiziell endet. „Wir sind Verfassungsorgan“, heißt es selbstbewusst aus den Fraktionen. Wer immer könne, solle am Mittwoch zur Abstimmung nach Berlin kommen, schrieb SPD-Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider an seine Fraktion.
Gleichzeitig wird auch im Bundestag alles anders: Die Abgeordneten im Plenarsaal unter der für Besucher geschlossenen Reichstagskuppel sollen sich morgen auseinandersetzen. Wer immer kann, soll die Debatten auf dem Fernseher im Abgeordnetenbüro
oder im Quarantänefall von zu Hause aus verfolgen. „Als Abgeordnete stehen wir in der besonderen Pflicht zum verantwortungsvollen Umgang mit der Krise und zu besonnenem Handeln“, hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Parlamentarier bereits vor zwei Wochen ermahnt.
Die Redner erhalten ihr Wasser nicht im Glas, sondern im Pappbecher, an den Eingängen zum Plenarsaal stehen Desinfektionsmittelspender. Presse- und Besuchertribünen sind nur eingeschränkt zugänglich. Die Ausschüsse werden personell verkleinert und in größere Räume verlegt. Für die Anreise nach Berlin wurde den Parlamentariern zudem das Auto empfohlen. Statt der unter Quarantäne stehenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) die Generaldebatte mit einer Regierungserklärung eröffnen.
Für die am Mittwoch geplante Abstimmung zur Schuldenbremse sollen auf der gesamten Plenarsaalebene weiträumig Wahlurnen aufgestellt werden. Und eine besondere Geschäftsordnung ist in Arbeit, die vorerst bis Ende September gelten soll: Geplant sind Ausschusssitzungen per Videokonferenz, Abstimmungen im Umlaufverfahren und eine Absenkung der Mindestzahl. Bisher ist der Bundestag beschlussfähig, wenn die Hälfte der Abgeordneten im Sitzungssaal ist. Künftig soll ein Viertel reichen. Fraktionssitzungen werden ins Netz verlegt oder entfallen.
Damit ist auch ein Vorschlag des Aalener CDU-Abgeordneten Roderich Kiesewetter vorerst vom Tisch. Kiesewetter wollte, dass im Pandemiefall ein Notparlament möglich ist. Eine solche Regelung gibt es schon für den Verteidigungsfall. Wird Deutschland militärisch angegriffen, kann der aus 48 Abgeordneten bestehende Gemeinsame Ausschuss (GemA) die Rolle des Parlaments übernehmen. Kiesewetters Vorschlag bräuchte zur entsprechenden Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit.
Damit sind die Besonderheiten aber noch nicht zu Ende: Am Freitag muss der Bundesrat noch in außerordentlicher Sitzung die vom Bundestag auf den Weg gebrachten Hilfspakete beschließen. Auch hier gelten Sonderregeln. So reicht es aus, wenn aus jedem Bundesland ein Kabinettsmitglied in der Länderkammer anwesend ist.