Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schluss mit „Sodom und Gomerra“
Nach 35 Jahren und 1758 Folgen fällt am Sonntag der letzte Vorhang für die „Lindenstraße“– Ein Abgesang auf die Mutter aller deutschen Seifenopern
Café Bayer: geschlossen. Restaurant Akropolis: geschlossen. Tanja Schildknechts Friseursalon: geschlossen. Es ist ein wunderschöner Frühlingsvormittag, doch abgesehen vom fröhlichen Gezwitscher einer Amsel herrscht gespenstische Stille. Die Lindenstraße ist menschenleer, wirkt wie die verlassene Kulisse einer vor Jahren eingestellten Fernsehserie. Im Fenster im Erdgeschoss von Haus Nummer 3 hängt eine Botschaft: „#StayTheFuckHome.“Und plötzlich schlurft von rechts kommend doch noch ein schlaksiger Mann mit leicht schütterem und ergrautem Haupthaar ins Bild, guckt mit liebenswürdigtrotteliger Miene in die Kamera und fragt: „Stör ich?“
Wenn die „Lindenstraße“am kommenden Sonntag nach 35 Jahren und 1758 Folgen ihren Dienst als Deutschlands Seriendauerbrenner Nummer 1 quittiert, wäre das eingangs geschilderte Schlussszenario eines, das viele eingefleischte Fans zumindest mit einem Lächeln Abschied nehmen ließe. Ein Ausstieg in Corona-Quarantäne samt Comeback der legendären Nervensäge Matthias Steinbrück wäre zweifellos ein würdiger Schluss. Höchst unwahrscheinlich ist er dennoch, denn erstens hat Arzthelferin Lisa den Ex-Priester Steinbrück schon vor Jahren mittels Bratpfanne ins Jenseits befördert, aus dem er höchstens noch in Mutter Beimers Komaträumen in die Lindenstraße zurückkehrt. Zum anderen war die Schlussfolge abgedreht, längst bevor das Coronavirus erst China und dann auch Europa in den Würgegriff nahm.
Ausgerechnet auf den allerletzten Metern wird die „Lindenstraße“dadurch eines ihrer Markenzeichen beraubt: der Aktualität. Wie Mutter Beimer und ihr Sohnemann
Klaus im Hausflur die coronabedingte Ausgangssperre in Bayern kommentieren und wie Gaby Zenker ob dieser unsicheren Zeiten das eine oder andere Rosenkranzgebet gen Himmel richtet, das würde der Hardcore-Fan schon gerne noch sehen.
Denn egal, was in den vergangenen 35 Jahren Überraschendes in den Tagen vor Ausstrahlung der neuen Folge auch passierte – es spielte am Sonntagabend zumindest irgendwie am Rande eine Rolle. Spontane Nachdreharbeiten machten es möglich. Welch Ironie, dass ausgerechnet die größte globale Krise seit dem Zweiten Weltkrieg in der „Lindenstraße“überhaupt nicht stattfindet beziehungsweise nur in Form von nachträglich eingefügten Radiomeldungen, die im Hintergrund zu hören sind.
Aktuelle und brisante Themen – zuletzt etwa Pädophilie oder rechtsradikale Netzwerke bei der Polizei – wurden in der Serie zwar bis zum Schluss aufgegriffen, den gesellschaftspolitischen Stellenwert früherer Jahre hat sie in den vergangenen Jahren dennoch sukzessive verloren. Statt wie damals in den 80erJahren mehr als zehn Millionen saßen zuletzt weniger als zwei Millionen Menschen sonntagabends vor dem Fernseher, wenn um 18.50 Uhr die dramatische Titelmelodie der „Lindenstraße“erklang.
Haben es die Macher um Hans W. Geißendörfer verpasst, die Serie rechtzeitig zu modernisieren und an ein sich veränderndes Publikum anzupassen? Eine schwierige Frage.
Die „Lindenstraße“spielt in Echtzeit und hatte immer den Anspruch, den Zustand der Gesellschaft der Gegenwart zu spiegeln. Hinter der kleinbürgerlich-spießigen Fassade der „Lindenstraße“hat in den vergangenen 35 Jahren praktisch alles stattgefunden, was in der deutschen Gesellschaft stattgefunden hat – und zwar oft früher öffentlich sichtbar als in der Realität. Das in den vergangenen Monaten im Zuge des medialen Abgesangs auf die „Lindenstraße“am häufigsten genannte Beispiel ist der erste homosexuelle Fernsehkuss Deutschlands im März 1990 zwischen Carsten Flöter und Robert Engel. Ein handfester Skandal damals.
Tabuthemen haben die Serienmacher reihenweise angepackt – und damit vielleicht auch ein kleines bisschen zu deren Enttabuisierung beigetragen. In der „Lindenstraße“starb der heterosexuelle
Urbayer Benno Zimmermann an Aids, kastrierte die aus Nigeria geflüchtete Mary Dankor ihren unsäglichen Schein-Ehemann Olaf Kling, schwängerte Alex Behrend die halbe weibliche Nachbarschaft, litt Philip Sperling unter einer ihn verprügelnden Frau, während sein Bruder Momo den gemeinsamen Papa Kurt um die Ecke brachte. In der „Lindenstraße“wurde geliebt und betrogen, vergewaltigt und gemordet. Die „Lindenstraße“war „Sodom und Gomerra“, wie es die bayerische Grantlerin Else Kling zu Lebzeiten dahinzugranteln pflegte.
Auch mit so manchem politischen Statement handelte sich die „Lindenstraße“Ärger ein, etwa als die flippige Linksalternative Chris Barnsteg 1988 den CSU-Politiker Peter Gauweiler als Faschisten bezeichnete und den Serienmachern damit eine Strafanzeige bescherte. In der „Lindenstraße“trafen anarchische Weltverbesserer auf brutale Neonazis, liebenswürdig-grummelige Obdachlose auf schmierig-skrupellose Immobilienhaie, chaotische Schrotthändler auf intellektuelle Akademiker. Unterm Strich scheinen nach 35 Jahren keine Themen und keine Charaktere mehr übrig geblieben, mit denen die „Lindenstraße“noch anecken oder gar aufrütteln könnte. Was würde uns denn heute noch schocken?
Helga Beimer hat all die „Lindenstraßen“-Typen kommen und viele von ihnen auch wieder gehen sehen. Relativ schnell wieder weg war zum Beispiel ein gewisser Jo Zenker, der an dieser Stelle auch nur deshalb erwähnt sei, weil er im wahren Leben Til Schweiger heißt und ein recht erfolgreicher Filmemacher ist, der sich nicht allzu gerne an seine „Lindenstraßen“Vergangenheit erinnert. Deutlich länger ausgehalten hat’s an der Seite von Helga Beimer deren innigst geliebter „Hansemann“, der zwar schon nach wenigen Serienjahren mit Nachbarin Anna Ziegler fremdging – auch das skandalös damals –, seiner „Taube“Helga aber dennoch bis zum Serientod in Folge 1685 irgendwie verbunden blieb.
Die allererste Szene in der „Lindenstraße“teilte sich Helga Beimer alias Marie-Luise Marjan am 8. Dezember 1985 aber mit Seriensohn Klaus alias Moritz A. Sachs, der ebenfalls bis zum Schluss überlebt hat. Ihr erster Satz damals: „Klausi, du sollst doch im Bett bleiben.“Wird Helga Beimer am Sonntag auch den Schlusssatz sprechen? Auf dem Sterbebett etwa? Wie wird sie enden, die Mutter aller deutschen Seifenopern? Mit einem großen Knall und vielen Toten? Oder mit einem Walzer auf der Straße wie traditionell nur in Silvesternächten? Denkbar ist fast alles. Vielleicht wird sich Helga Beimer auch ganz einfach zwei FrustbewältigungsSpiegeleier in die Pfanne hauen. Aus Verärgerung darüber, dass das Fernsehen ihre Lieblingsserie eingestellt hat.