Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wenn der Blinddarm zum Problemorgan wird
Eine Entzündung der Appendix kann immer noch tödlich enden – Doch der Wurmfortsatz ist auch ein Reservoir für wichtige Darmbakterien
Das Ende des Blinddarms hat kein gutes Image: „Überflüssig wie ein Wurmfortsatz“, heißt es oft. Es gilt als biologisch überholtes Anhängsel, das nur Ärger macht. Tatsächlich aber hat es – obwohl es im Erkrankungsfall tödlich sein kann – durchaus seinen Sinn.
Wohl jeder kennt jemanden, der den verräterischen Schnitt am rechten Mittelbauch zeigt. Denn rund 80 000 Mal pro Jahr wird in Deutschland die Diagnose „Appendizitis“, eine Entzündung im Wurmfortsatz des Blinddarms gestellt. Das lebenslange Risiko für diese Erkrankung liegt bei sieben bis acht Prozent. Der Blinddarm ist also ein Problemorgan. Weswegen man – nicht zuletzt aufgrund der Fortschritte in der operativen Medizin – auf die Idee kommen könnte, zumindest sein Endstück vorsorglich zu entfernen. Doch wer sich mit diesem Wunsch an einen Mediziner wenden sollte, wird da wohl keine positive Antwort bekommen.
So betont Thomas Wilhelm, Chefarzt der Allgemein- und Visceralchirurgie am St. Vinzenz-Hospital in Köln: „Die Appendix enthält lymphatisches Gewebe, und in der Kindheit hat sie einen wichtigen Anteil an der Ausbildung des Immunsystems.“ Appe’n’dix Die hat in der Kindheit einen wichtigen Anteil an der Ausbildung des Immunsystems.
Mediziner Thomas Wilhelm über die Funktion des Wurmfortsatzes
Sie hat also sozusagen immunpädagogische Aufgaben. Und sie dient, wie ein Forscherteam um William Parker von der Duke University im US-amerikanischen Durham ermittelte, als Reservoir für die Bakterien der Darmflora. „Sie können in dem etwas abgelegenen Organ sogar schwere Durchfallerkrankungen überstehen“, so der Chirurg. Wenn die Darmflora also – etwa infolge eines Durchfalls – ausgedünnt ist, findet sie im Wurmfortsatz zügig Ersatz für verloren gegangene Bakterienkulturen. Was nicht nur die Regeneration der Verdauung beschleunigt. „Die umgehende Wiederbesiedlung des Biofilms verringert auch das Risiko, dass sich im geschwächten Darm gleich wieder schädliche Eindringlinge festsetzen“, erläutert Parker.
Von einem überflüssigen Relikt der Evolution, wie es Charles Darwin vermutete, kann also keine Rede sein. Was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass ein Leben ohne Wurmfortsatz schwierig ist. „Nach seiner Entfernung muss man – sofern der Eingriff gut verlaufen ist – keine Einschränkungen befürchten“, beruhigt Wilhelm. Es sei auch nicht nötig, eine Diät oder dergleichen auf sich zu nehmen. In der Regel könne der Körper den Ausfall des Organs problemlos kompensieren.
Der Wurmfortsatz hat also Bedeutung, doch man kommt auch ohne ihn klar. Doch warum entzündet er sich dann so oft? Die Antwort: Beim Menschen ist sein Eingang kleiner als bei reinen Pflanzenfressern wie etwa den Kühen, und deswegen kommt es dort relativ zu Stuhlablagerungen und einem Sekretstau. „Das ist dann ein wunderbarer Nährboden für Bakterien, die schließlich eine Entzündung herbeiführen können“, so Wilhelm. Und das geschehe unabhängig von irgendwelchen Ernährungsfehlern. „Die Appendizitis kommt eher schicksalhaft“, so der Kölner Chirurg. Sie lasse sich nicht vermeiden, indem man besondere Ernährungsregeln einhält.
Auch das Alter spielt bei ihrer Entstehung keine sonderliche Rolle. Man hört zwar meistens von einer Blinddarmentzündung, wenn sie ein Kind befallen hat. Doch tatsächlich kann sie jedes Alter treffen. „Es gibt auch eine Häufung bei älteren Menschen, man spricht dann von einer Altersappendizitis“, erklärt Wilhelm. Typische Symptome sind
Bauchschmerzen, die um den Nabel herum anfangen und sich dann in den rechten Unterbauch verlagern. Ein Kind klagt allerdings oft nur generell über Bauchweh, ohne das nicht näher lokalisieren zu können. Eltern sollten es daher auf dem rechten Bein hüpfen lassen. „Sofern es das aufgrund von Schmerzen nicht kann, sollte man unbedingt mit ihm zum Arzt“, warnt Wilhelm. Übelkeit, Erbrechen, Fieber und Appetitverlust seien hingegen keine verlässlichen Symptome, weil sie auch bei vielen anderen Erkrankungen auftreten.
Der Arzt kann dann den Patienten an drei charakteristischen Druckpunkten im Bauchbereich abtasten, an denen sich die Schmerzen bei einer Appendizitis provozieren lassen: den McBurney-, den Lanz- und den Blumberg-Punkt. Allerdings bringt auch das keine hundertprozentige Diagnosesicherheit.
Wilhelm selbst untersuchte kürzlich eine junge Kollegin, die seit einigen Tagen Beschwerden im rechten Unterbauch hatte. „Sie reagierte zwar an den genannten Punkten, aber auch nicht so eindeutig, dass wirklich nur eine Appendizitis dahinterstecken könnte“, so der Kölner Arzt. Die Diagnose sei eben manchmal schwierig. Weitere Gewissheit bringt eine Entnahme des Blutes, um es auf eine erhöhte Anzahl weißer Blutkörperchen und anderen Entzündungszeichen zu untersuchen. Und eine Ultraschalluntersuchung liefere ebenfalls sichere Indizien. „Dafür sollte man als Arzt aber schon geübt sein“, betont Wilhelm.
Die treffsicherste Diagnose liefert schließlich die Bauchspiegelung, bei der man sich vor Ort ein Bild des Geschehens macht. Ihr weiterer Vorteil: Sofern sich die Appendizitis bestätigt hat, kann man das kranke Organ gleich entfernen. Denn die Zugangswege für die dazu notwendigen Instrumente sind ja schon gelegt. Nach diesem Eingriff ist der Patient in der Regel schon wieder zwei bis drei Tage später zu Hause.
In jüngerer Zeit werden zwar auch Antibiotika als Therapie-Option diskutiert, doch Wilhelm sieht darin nur geringe Erfolgsaussichten. Und das auch vor dem Hintergrund, dass es sehr gefährlich sein kann, wenn man zu lange mit der Operation wartet. „Dann kann der Wurmfortsatz aufplatzen, sodass der Darminhalt samt seinen Bakterien ungehindert in den Bauchraum gelangt“, warnt der Mediziner. In der Folge kommt es zu einer Bauchfellentzündung, die zu Verklebungen im Bauchraum führen kann und letztendlich auch das operative Entfernen des Blinddarmfortsatzes erschwert. Und dann wird es wirklich lebensgefährlich. In Deutschland sterben laut Robert-Koch-Institut immer noch mehr als 100 Menschen pro Jahr an einer akuten Appendizitis.