Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die offene Wunde heilt nur langsam
Ein Jahr nach dem verheerenden Brand ist Notre-Dame in Paris weiterhin eine Ruine
PARIS - Am Freitagvormittag um 11.30 Uhr macht Frankreich eine kleine Corona-Pause. Der Nachrichtensender BFM wird zu dieser Zeit keine Bilder aus den Krankenhäusern zeigen, sondern sich einer Patientin zuwenden, deren Schicksal in den vergangenen Wochen etwas in Vergessenheit geraten ist: die Kathedrale Notre-Dame. Der am 15. April 2019 von den Flammen verwüstete Kirchenbau wird Kulisse einer kleinen, live übertragenen Karfreitagsmeditation, die der Pariser Erzbischof Michel Aupetit leitet. Er will mit der Zeremonie zeigen, dass Notre-Dame immer noch ein Ort des Gebets ist allen Widrigkeiten zum Trotz.
Wenn die Kathedrale von vorne auch intakt wirkt, so ist ihr Inneres doch eine offene Wunde. Das Gebäude aus dem 12. Jahrhundert wurde immer noch nicht komplett stabilisiert. Zwar tragen riesige Holzbügel die äußeren Stützpfeiler, und auch das Dach, das vor einem Jahr in Flammen aufging, wurde mit einer neuen Konstruktion abgedeckt. Doch das Gerüst, das vor der Brandkatastrophe
aufgestellt worden war, klebt noch immer an der weltberühmten Kirche wie ein metallisches Pflaster. Am 23. März sollten eigentlich Kletterer damit beginnen, die 50 000 Streben auseinanderzusägen, die in den Flammen bei 800 Grad zusammengeschmolzen waren. Aber die komplizierte Operation fiel wegen der Corona-Pandemie aus. Seit dem 16. März ruhen nämlich alle Arbeiten an der berühmtesten Baustelle der Welt. Die Abstandsregeln sind von den rund hundert Arbeitern in der Kathedrale unmöglich einzuhalten.
„Wir hätten mehrmals am Tag duschen, Schleusen passieren und uns in engen Kabinen umziehen müssen. All das ist jetzt verboten“, sagt Architekt Philippe Villeneuve der Zeitung „Le Figaro“. Seit im vergangenen Jahr eine hohe Bleikonzentration rund um die Kathedrale gemessen worden war, gelten für die Arbeiter strenge Reinigungsvorschriften. 450 Tonnen Blei waren am 15. April 2019 verbrannt und als feiner Staub wieder heruntergekommen. Mehrere Wochen lang ließen die gefährlichen Mikropartikel die Baustelle im Juli und August ruhen.
An einen Wiederaufbau in fünf Jahren, wie ihn Präsident Emmanuel Macron nach der Brandkatastrophe versprochen hatte, ist inzwischen nicht mehr zu denken. Noch immer werden im Inneren die Trümmer weggeräumt. Die eigentliche Restaurierung soll erst im nächsten Jahr beginnen. „Es ist möglich, die Kathedrale wieder teilweise für den Gottesdienst zu öffnen, ohne dass die Arbeiten beendet sind“, sagt der Organist von Notre-Dame, Yves Castagnet.
Darauf hofft auch der pensionierte General Jean-Louis Georgelin, der den Wiederaufbau im Namen des Präsidenten leitet. Der resolute „Monsieur reconstruction“kündigte bereits an, am 16. April 2024 in NotreDame einen Dankgottesdienst feiern zu wollen.
Noch kann die Kathedrale allerdings keine Gläubigen aufnehmen. Bilder aus dem Innern zeigen immer noch kleine Häufchen aus Schutt und Holz auf dem Boden, an der Stelle des eingestürzten Spitzturms ist der offene Himmel zu sehen. „Notre-Dame ist nicht gerettet“, räumte Georgelin im Januar ein. Auch über den
Wiederaufbau sei noch nichts entschieden. Die heikle Frage entzweit Frankreich seit dem Tag des Feuers: Soll das Wunderwerk der Gotik mit seinem Spitzturm aus dem 19. Jahrhundert originalgetreu wieder aufgebaut werden oder soll ein modernes Element hinzukommen?
An Geld fehlte es dabei bisher nicht: 992 Millionen Euro wurden laut Georgelin an Spenden zugesagt, 600 Millionen davon von französischen Unternehmen wie Total oder L’Oréal. Doch mit der Corona-Krise dürften viele Versprechen in sich zusammenbrechen. Denn Firmen, die bisher gut dastanden, kämpfen nun ums Überleben. Auch die Gemeinden, die sich finanziell am Wiederaufbau beteiligen wollten, brauchen das Geld nun für sich selbst.
Bei allen schlechten Nachrichten kommt aus Notre-Dame in diesen Tagen aber auch eine gute: Die Hunderte Fühler, die an dem Kirchenbau angebracht wurden, haben bisher kein Zeichen von Instabilität in dem mehr als 800 Jahre alten Mauerwerk ergeben. Die Kathedrale scheint gelassen auf ihren Wiederaufbau zu warten.