Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Risikoanalyse sagte Engpässe voraus
Eine Risikoanalyse aus dem Jahr 2012 weist Parallelen zur Corona-Krise auf
RAVENSBURG (dan) - Das Szenario einer Risikoanalyse der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 ähnelt der aktuellen Coronavirus-Pandemie. In dem Planspiel der weltweiten Verbreitung eines neuartigen Virus kommt es auch zu einem Mangel an Schutzkleidung und Desinfektionsmittel – so wie in der aktuellen SarsCoV-2-Pandemie. Kritiker betonen, diese Engpässe hätte man voraussehen können. Katastrophenschutz-Experte Peer Rechenbach sagte der „Schwäbischen Zeitung“, Empfehlungen, Verbrauchsmittel wie Masken und Handschuhe einzulagern, seien nicht umgesetzt worden.
RAVENSBURG - Der Text liest sich wie eine unheilvolle Vorhersage der Coronavirus-Pandemie. 2012 hatte die Bundesregierung in einer Risikoanalyse die weltweite Ausbreitung eines neuartigen Erregers durchspielen lassen. Die teils deutlichen Parallelen zum Jahr 2020 rufen sogar Verschwörungstheoretiker auf den Plan. Sie sehen in dem fiktiven Szenario einen Geheimplan der Regierung. Auch wenn das Unsinn ist – einige der Schwachstellen und derzeitigen Probleme des Gesundheitssystem hat die Analyse vorausgesagt.
„Modi-Sars“heißt der hypothetische Erreger in der Risikoanalyse aus dem Jahr 2012. Das Coronavirus springt auf einem Markt in Südostasien von einem Wildtier auf den Menschen über. Von dort aus verbreitet sich es weltweit. Nach drei Jahren – so lange dauert die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Modi-Sars – sind allein hierzulande 7,5 Millionen Menschen an dem Erreger gestorben.
So lautet der düstere Schluss der Studie „Pandemie durch Virus ModiSars“. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat sie 2012 federführend verfasst, mehrere Bundesbehörden haben daran mitgewirkt. Anlass für die Analyse waren verschiedene Viruspandemien in den Jahren zuvor – ein konspiratives Drehbuch für eine gesteuerte Pandemie ist sie also keineswegs. „Die Wahl eines Sars-ähnlichen Virus erfolgte unter anderem vor dem Hintergrund, dass die natürliche Variante 2003 sehr unterschiedliche Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen gebracht hat“, heißt es in dem Papier.
Das wird auch in dem fiktiven Szenario der Fall sein. Nach Deutschland gebracht wird das Modi-Sars von insgesamt zehn Menschen, zwei von ihnen sind maßgeblich an der Verbreitung verantwortlich. Einer der Überträger betreut einen Messestand in Norddeutschland. Bei dem anderen handelt es sich um einen Studenten, der nach einem Auslandssemester in China in seine süddeutsche Universitätsstadt zurückkehrt.
In Deutschland und weltweit verbreitet sich das Modi-Sars fortan. „Das Ereignis beginnt im Februar in Asien, wird dort allerdings erst einige
Wochen später in seiner Dimension/ Bedeutung erkannt. Im April tritt der erste identifizierte Modi-Sars-Fall in Deutschland auf “, heißt es in der Analyse. Jeder Infizierte steckt drei weitere Menschen an. Die Symptome einer Erkrankung mit dem Modi-Sars sind ähnlich denen der Covid-19: trockener Husten, Fieber und Lungenentzündung als Komplikation.
Die Bundesregierung setzt an Tag 48 nach den ersten Fällen Maßnahmen in Kraft. Kontaktpersonen von Infizierten kommen in Quarantäne, Schulen werden geschlossen und Großveranstaltungen abgesagt. Menschen meiden aber auch von sich aus die Öffentlichkeit. Das zeigt in dem Szenario auch Wirkung. Die Verbreitung des Modi-Sars wird verlangsamt – verhindern können die Maßnahmen sie jedoch nicht.
Zum Höhepunkt der ersten Infektionswelle sind nach 300 Tagen hierzulande etwa sechs Millionen Menschen erkrankt. Zwei weitere Wellen verlaufen schwächer mit rund drei beziehungsweise zwei Millionen gleichzeitig Infizierten. Etwa zehn Prozent der an Modi-Sars Erkrankten versterben, bei den über 65-Jährigen gar die Hälfte. Innerhalb von drei Jahren erliegen mindestens 7,5 Millionen Menschen einer Infektion.
All das kann nun beunruhigen – sollte es aber nicht. Denn bei dem Verlauf handelt es sich um ein theoretisches Worst-case-Szenario. „Bei dem damaligen Szenario Modi-Sars handelte es sich nicht um eine Vorhersage der Entwicklung und der Auswirkungen eines pandemischen Geschehens, sondern um ein Maximalszenario ausgelöst durch einen fiktiven Erreger“, teilt das RobertKoch-Institut auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit. „Eine Übertragbarkeit auf die aktuelle Situation ist daher nicht möglich“, erklärt das RKI weiter.
Nach allem, was man über SarsCoV-2 weiß, ist der hypothetische Erreger gefährlicher als das neuartige Virus. Die in der Studie angenommene Sterberate von zehn Prozent liegt deutlich unter dem Wert der aktuellen Coronavirus-Pandemie – zumindest in Deutschland. In der Analyse müssen zwei Drittel der Erkrankten im Krankenhaus behandelt werden – bei Sars-CoV-2 sind es weit weniger.
Aber: Die Auswirkungen auf Gesellschaft, auf Wirtschaft und die Politik hat die Risikoanalyse teils treffend prognostiziert. Die Krisenkommunikation gelingt „nicht durchgängig angemessen gut“, so dass „widersprüchliche Aussagen von verschiedenen Behörden/Autoritäten die Vertrauensbildung und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen erschweren“können.
Das Schadensausmaß für die Volkswirtschaft erreicht die höchste von fünf Stufen. Unternehmen könnten die Auswirkungen der Pandemie selbst bei guter Planung und Vorbereitung gegebenenfalls nicht mehr kompensieren. Für Privathaushalte sei „mit entsprechend schweren wirtschaftlichen Auswirkungen zu rechnen“.
Über das Gesundheitswesen heißt es in der Risikoanalyse: „Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe.“Auch personelle Kapazitäten reichten nicht aus. Pfleger, Ärzte und weiteres medizinisches Personal klagen schon seit Beginn der tatsächlichen Corona-Krise über fehlende Schutzkleidung.
Hätten die Behörden also vorbereitet sein können? Im Januar 2013 ist die Risikoanalyse dem Bundestag vorgelegt worden, seitdem schlummert sie als Drucksache 17/12051 auch im Internet. „Ich habe den Eindruck, in Nicht-Krisenzeiten redet man ungern über Katastrophenszenarien“, sagt Benjamin Strasser, FDP-Innenexperte und Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Ravensburg.
Konsequenz solcher Risikoanalysen sollte sein, dass Bund und Länder ihre Pandemiepläne anpassen und Kommunen entsprechende Maßnahmen festlegen. Strasser sei sich sicher, dass das Robert-Koch-Institut dies auch getan habe. „Bei den Ländern kann man das nicht genau sagen. Das
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe weiß nicht, inwiefern die Länder daraus Maßnahmen für sich abgeleitet haben“, sagt Strasser weiter. „Ich befürchte, dass das nicht im ordentlichen Maß geschehen ist. Sonst hätten wir diese Versorgungsengpässe nicht.“Ein Problem sei dabei auch die dezentrale, teils unklare Verteilung von Kompetenzen bei Zivil- und Katastrophenschutz zwischen Bund und Ländern.
Peer Rechenbach macht dafür grundsätzlich verschiedene Vorstellungen von Katastrophenschützern und Gesundheitssystem verantwortlich. „Jeder Versuch, beim Gesundheitswesen etwas zu etablieren, was Geld kostet, bedarf des Bohrens sehr dicker Bretter“, sagt der Katastrophenschutz-Experte, der das Szenario mitgestaltet hat.
Nach den „vier biologischen, kritischen Herausforderungen“Sars, Vogelgrippe, Schweinegrippe und EHEC habe man daher eine Risikoanalyse mit einer „gewissen Dramatik“als Weckruf für Bund und Länder erstellt. Der frühere Vorsitzende des Arbeitskreises für Katastrophenschutz der Innenministerkonferenz erklärt, damals habe man Defizite in der Vorbereitung auf mögliche Pandemien ausgemacht.
Doch die Empfehlungen, Verbrauchsmittel wie Masken und Handschuhe einzulagern, seien aus Kostenund Logistikgründen nicht umgesetzt worden. „Die Stellen haben die Risikoanalyse zur Kenntnis genommen, aber nichts Nachhaltiges ist geschehen“, sagt Rechenbach.
Das hat die Analyse also vorweggenommen – doch das ist nicht alles. Auch die positiven Begleiterscheinungen einer Pandemie hat sie richtig vorhergesehen. „Im vorliegenden Szenario wird davon ausgegangen“, heißt es auf Seite 79, „dass die Mehrheit der Bevölkerung sich solidarisch verhält und versucht, die Auswirkungen des Ereignisses durch gegenseitige Unterstützung und Rücksichtnahme zu verringern.“
„Ich befürchte, dass das nicht im ordentlichen Maß geschehen ist.“
FDP-Innenexperte Benjamin Strasser zu der Frage, ob Kommunen und Länder die Ergebnisse der Analyse umgesetzt haben.