Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der „Islamische Staat“ist wieder auf dem Vormarsch
Tausende IS-Kämpfer sind aus ihrem Rückzugsraum in der Wüste Badia ausgebrochen – Nun tauchen sie vor Bagdad auf
ISTANBUL - Gut ein Jahr nach der Zerstörung seines „Kalifats“ist der „Islamische Staat“wieder da. ISTrupps tauchten vor wenigen Tagen rund 50 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt auf und töteten mindestens zehn Kämpfer der irakischen Miliz PMF, die im Jahr 2014 für den Kampf gegen die Dschihadisten gegründet wurde. Der Angriff war keine Einzelaktion. In mehreren Gegenden von Irak und Syrien ist der IS wieder auf dem Vormarsch. „Langsam und methodisch“gehe die Terrormiliz bei ihrer Rückkehr vor, sagt der amerikanische IS-Experte Charles Lister. Der „Islamische Staat“hat aus früheren Niederlagen gelernt – und profitiert von der Schwäche seiner Gegner.
Als die Extremisten im März vergangenen Jahres den letzten Rest ihres „Kalifats“im syrisch-irakischen Grenzgebiet nach einer Offensive der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition aufgeben mussten, zogen sich viele Kämpfer in die Wüstenregion Badia zurück. Auch den Tod von „Kalif“Abubakr al-Bagdadi bei einem US-Angriff auf sein Versteck
in Syrien im Herbst überlebte die Organisation. US-Geheimdienste haben den früheren irakischen Armeeoffizier Amir Mohammed Abdul Rahman al-Mawli als neuen Chef identifiziert.
Die Wüste Badia ist ein idealer Rückzugsraum für den IS. Das riesige Gebiet von einer halben Million Quadratkilometern ist nur dünn besiedelt und reicht vom Süden Syriens bis zum Euphrat im Irak. Die syrische Regierung habe seit dem vergangenen Jahr versucht, den „Islamischen Staat“an einem Ausbruch aus der Wüste zu hindern, schrieb Lister, Terrorismus-Fachmann beim Nahost-Institut in Washington, in einer Analyse. Dieser Versuch sei gescheitert, weil die Armee von Präsident
Baschar al-Assad nicht genügend Soldaten und außerdem andere Prioritäten habe: Assad versucht derzeit, die Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten Syriens zu erobern.
In den Wintermonaten verhielt sich der IS relativ ruhig, doch seit dem Beginn des Frühjahrs und dem Ausbruch der Corona-Pandemie geht die Terrormiliz wieder in die Offensive. Anfang April musste die russische Luftwaffe eingreifen, um einen Angriff des Islamischen Staates in der syrischen Wüstenstadt AlSukhna zurückzuschlagen. Ende des Monats töteten die Dschihadisten mindestens sieben syrische Soldaten bei einem Hinterhalt.
Im benachbarten Irak ist der IS inzwischen noch stärker. In der Provinz Kirkuk griffen die Dschihadisten im April nach Listers Zählung dreimal so häufig an wie im März. Der irakische Sicherheitsexperte Hischam al-Haschemi sagte der Nachrichtenagentur AFP, die Gefechte hätten ein Ausmaß erreicht, „das wir schon lange nicht mehr erlebt haben“. In den Dörfern um die Stadt Bakuba nordöstlich von Bagdad terrorisieren IS-Kämpfer die Bauern, wie ein örtlicher Clanchef sagte: Es sei wie beim Höhepunkt der IS-Feldzüge im Jahr 2014. Rund 3000 IS-Kämpfer soll es inzwischen wieder im Irak geben.
Der „Islamische Staat“geht systematisch vor. Die Dschihadisten greifen im Irak häufig in der Nähe von Fernstraßen an, die sie anschließend für den Schmuggel oder zur Erpressung von „Mautgebühren“nutzen. Bis zu 2,8 Millionen Euro im Monat nehme der IS damit ein, meldete die US-Denkfabrik CGP.
Lister betont zudem, IS-Gewaltaktionen würden sorgfältig geplant, genau koordiniert und häufig im Schutz der Dunkelheit ausgeführt. Die irakischen Sicherheitskräfte sind offenbar nicht in der Lage, die ISTrupps zu beobachten oder auszuspionieren, um sich auf bevorstehende IS-Überfälle vorbereiten zu können. Wegen der Corona-Krise haben die Iraker zudem die Zahl ihrer Soldaten in den Krisenregionen des Landes reduziert: Viele Soldaten müssen jetzt Ausgangssperren überwachen. Auch die US-Armee kann nur eingeschränkt helfen. Die amerikanischen Militärs wollen ihre Soldaten im Irak auf nur noch zwei Stützpunkten konzentrieren.