Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Deutschland gedenkt des Kriegsendes
Staatsakt wegen Corona-Pandemie abgesagt – Maas warnt vor Geschichtsvergessenheit
BERLIN/RAVENSBURG - An diesem Freitag wird weltweit des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren gedacht, dem Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht – aufgrund der Corona-Pandemie jedoch völlig anders als geplant. In Paris wird Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Vormittag an der Seite hoher Militärs an einer Feier am Triumphbogen teilnehmen – ohne Publikum. In London will Queen Elizabeth II. am späten Abend eine Ansprache halten – im Fernsehen. In Moskau wurde die von Präsident Wladimir Putin geplante Militärparade anlässlich des Jahrestages des Sieges über Hitler-Deutschland verschoben. Auch in Deutschland wird der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht. Der zunächst geplante Staatsakt, die höchste mögliche Form der Würdigung eines Ereignisses, wurde jedoch abgesagt.
Vorgesehen ist nun eine Kranzniederlegung an der Neuen Wache, der zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Teilnehmen werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Schäuble (CDU), Dietmar Woidke (SPD) und Andreas Voßkuhle.
Außenminister Heiko Maas (SPD) warnte bereits am Donnerstag vor Geschichtsvergessenheit. Wer den 8. Mai nicht mehr als Gedenktag betrachten wolle, beraube damit die deutsche Politik ihrer Glaubwürdigkeit, schrieb er im „Spiegel“. Es sei wichtig, die alleinige Verantwortung Deutschlands am Krieg und besonders am Holocaust zu akzeptieren. Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“lobte die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Erinnerungskultur in Deutschland, warnte jedoch auch: „Die Frage ist aber, hält das Erreichte dem massiven Druck stand, dem es jetzt von rechts ausgesetzt ist?“
Der von Deutschland entfesselte Krieg kostete nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 55 und mehr als 60 Millionen Menschen das Leben.
- Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg. Welchen Stellenwert hat der Tag 75 Jahre später? Und wie geht Deutschland mit seiner Geschichte um? Die deutsche Aufarbeitungsgeschichte ist eine Erfolgsgeschichte, sagt die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann im Gespräch mit Theresa Gnann. Doch das Erreichte stehe unter massivem Druck.
Frau Assmann, Sie sind 1947, also kurz nach Kriegsende, geboren. Woran erinnern Sie sich ganz persönlich?
Ich selbst habe keine Kriegserinnerungen. Das unterscheidet mich sehr von meinem Mann. Uns trennen nur wenige Jahre, aber dazwischen liegt ein generationeller Bruch. Ich erinnere mich an die chaotische Nachkriegszeit. Da gingen Leute mit Leiterwagen umher und verkauften alles Mögliche, um an Geld zu kommen. Ich selbst bin einmal plötzlich in einem solchen Leiterwagen gelandet und wurde von einer tapferen Nachbarin wieder zurückgeholt. Ich will damit sagen: Die Situation damals war nicht zivil und bürgerlich, sondern sehr ungeordnet. Einen Staat gab es ja auch erst wieder ab 1949. Ich wurde also in eine ganz wilde Zwischenkriegszeit hineingeboren. Mein Mann hat da schon mehr erlebt. Lübeck, wo er aufgewachsen ist, wurde damals zum Beispiel von schottischen kilttragenden Soldaten mit Dudelsäcken befreit. Das muss ein unbeschreibliches Fest der Freude gewesen sein. Das ist eine positive Erinnerung, aber natürlich hat er auch ganz andere.
Der 8. Mai ist als Tag der Befreiung ein bedeutender Jahrestag in der deutschen Geschichte. Wie wichtig sind solche Gedenktage, aber auch Mahnmale und Museen für die Erinnerung?
Erinnerung ist nicht nur etwas Innerliches, sondern auch was Äußerliches. Etwas, das man sehen und anfassen kann, das konkret wird. In Breisach bei Freiburg gibt es zum Beispiel das blaue Haus. Früher war es ein jüdisches Gemeindezentrum. Inzwischen wird es bespielt und belebt, es finden Kulturveranstaltungen darin statt. Breisach ist eben nicht nur Holocaust-Gedenkort, sondern auch ein Ort, an dem über 700 Jahre jüdisches Leben war. An diese Geschichte wird erinnert. Wenn man solche Orte und Tage nicht hat, wo soll man diese Geschichten erzählen? In der Luft kann man sie nicht aufhängen. Es sind Kristallisationspunkte, an die sich dann eine neue Erinnerung knüpfen kann.
Es wird viel über das deutsche Erinnern debattiert. Ist die deutsche Aufarbeitungsgeschichte in Ihren Augen eine Erfolgsgeschichte?
Momentan ja. Denn nicht nur in Breisach, sondern überall in Deutschland sind solche Spuren zu sehen. Denken Sie allein an die Stolpersteine. All das ist letztlich das Werk der 68er-Generation. Diese Menschen haben das alles ehrenamtlich von unten aufgebaut. Die Frage ist aber, hält das Erreichte dem massiven Druck stand, dem es jetzt von rechts ausgesetzt ist? Wenn sich Jüngere finden, die in ihre Fußstapfen treten, wird die deutsche Aufarbeitung eine Erfolgsgeschichte bleiben.
Sie haben einmal gesagt, die Deutschen haben die Geschichte hinter sich gelassen, indem sie sie vor sich aufgebaut und ausgebreitet haben. Wie meinen Sie das?
Sehen wir es mal aus der Perspektive der Juden, die überlebt haben. Wie reagieren die heute? Die sagen: Wir gehen nicht an einen Ort, an dem die Spuren dieser Geschichte nicht mehr zu sehen sind. Wir gehen dahin, wo wir Zeichen, Spuren und Denkmäler finden, die zeigen, was passiert ist und die diese Geschichte erklären. Das ist ein Raum, den wir wieder betreten können. Ich denke zum Beispiel an den berühmten Dichter aus Vilnius, Aharon Appelfeld, der die deutsche Vernichtungsorgie im ‚Jerusalem des Norden‘, wie die Stadt einmal hieß, überlebt hat. Der ist später viel gereist, aber nie mehr nach Vilnius gefahren. Denn dort gibt es keine Spur jüdischen Lebens mehr. Das war für ihn eine zweite Auslöschung. Es gibt einen Genozid, es gibt aber auch einen Memozid, also einen Gedächtnismord. Und der geht fast noch tiefer. Ausbreiten heißt also Spuren freilegen, zeigen, sich damit beschäftigen, weitererzählen. Das ist das Gegenteil von Gedächtnismord.
Wie unterscheidet sich die Aufarbeitung zwischen Ost- und Westdeutschland?
Wir haben in der Tat eine völlig gespaltene Erinnerung an den Nationalsozialismus in Ost und West. Erinnerung tragen die Menschen ja nicht nur in sich, sondern sie wird auch vom Staat und der Gesellschaft geprägt, in der man steckt. Man nennt das Erinnerungsrahmen. In der DDR war der 8. Mai seit 1950 ein Tag des Sieges. Man hat sich vollkommen identifiziert mit einer kommunistischen Befreiung. Man war also auf der Seite der Befreier und nicht auf der Seite der Opfer oder Täter. Im Westen war das ganz anders. Dort ging man zuerst einmal davon aus, dass es ein Tag der Niederlage war und es nichts zu feiern gab. Diese Grundhaltung war bestimmt durch die Kriegsgeneration, die damals noch im Mittelpunkt der Gesellschaft lebte. Viele von ihnen kamen am 8. Mai in Kriegsgefangenschaft und waren dann zum Teil fünf Jahre oder länger weg von Zuhause. Denen musste man erstmal erklären, warum das jetzt ein Tag der Befreiung sein sollte. Die nächste Generation hatte dann überhaupt kein Problem mehr damit, die westalliierte Perspektive der Befreiung einzunehmen. Und je mehr die Kriegsgeneration die Dominanz verlor und die jüngere Generation nachrückte, desto mehr nahm die deutsche Gesellschaft diesen Tag auch als Tag der Befreiung an.
Nicht jeder hält die deutsche Aufarbeitung für einen Erfolg. Der Gießener Politologe Samuel Salzborn bezeichnet sie als die größte Lebenslüge der Bundesrepublik. Die Aufarbeitung existiere nur im intellektuellen Diskurs.
Da kann ich nur lachen. Der Vorwurf, das sei nur ein intellektueller Diskurs von ein paar Leuten im Elfenbeinturm, ist absurd. Die Aufarbeitung war natürlich nicht das Werk der ganzen Gesellschaft, aber die Arbeit eines wichtigen Teils einer bestimmten Generation. Überall wurde nach den Spuren jüdischen Lebens gesucht, diese Spuren wurden in langfristiger, geduldiger Gedenkarbeit vor Ort erhalten und gepflegt. Es gibt in BadenWürttemberg allein 77 Gedenkstätten, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden sind, die meisten davon werden ehrenamtlich betreut. Ob sie es wollen oder nicht, Menschen, die so reden wie Salzborn, spielen nur den Rechten in die Hände, die diese Entwicklung gerne rückgängig machen wollen.