Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Alptraum auf dem Traumschiff
Die MS Amera befindet sich im Amazonas, als die Corona-Krise ausbricht – ihr Kapitän stammt aus Sigmaringen und muss mit 1000 Passagieren ausharren
SIGMARINGEN - Wenn ein Kreuzfahrtschiff im Amazonas festsitzt. Niemand darf aussteigen, niemand darf rein. So geschehen Anfang März, als die Corona-Krise Südamerika traf. Elmar Mühlebach ist als Kapitän Herr über knapp 1000 Passagiere und rund 450 Mann Besatzung. Eine Stärke des gebürtigen Sigmaringers: Nerven so stark wie Stahlseile.
Eine Passagierin bringt die Dramatik auf den Punkt: „Mit Kreuzfahrt hat das nichts mehr zu tun“, sagt die junge Frau, die mit ihrer Freundin reist, in einer Doku der ARD. Der Luxus auf dem Schiff MS Amera, das von der deutschen Phönix-Reederei gesteuert wird, ist am Ende einer SüdamerikaUmrundung schlagartig unwichtig.
An einem wolkenverhangenen Tag in Manaus, Brasilien: Mit den beiden Frauen freuen sich Hunderte Passagiere
nach ihrer Kreuzfahrt auf ihre Rückkehr nach Deutschland. Die Koffer sind gepackt, die Flugzeuge im Anflug, als der brasilianische Gouverneur entscheidet: Niemand darf von Bord, keine Passagiere, keine Crewmitglieder. Niemand. Eine harte, zweifelhafte Entscheidung, denn die Gesundheitsbehörden haben das Schiff zuvor als unbedenklich eingestuft, weil es keinerlei Anzeichen von Corona gibt.
Kapitän Elmar Mühlebach kommentiert diese für sein Schiff folgenreiche Entscheidung auf seine nüchtern-sachliche Art: „Wir konnten nichts mehr machen, für uns auf der Brücke gab es nichts zu entscheiden.“Wenn die knapp 1000 Passagiere nicht auf dem Luftweg zurückkommen in ihre Heimat, bleibt nur der Seeweg. Für die 5700 Seemeilen nach Bremerhaven benötigt ein Kreuzfahrtschiff wie die Amera knapp drei
Wochen, wenn es schnell fährt. „Um schnell zu fahren, hatte ich nicht genügend Sprit.“Also muss Treibstoff gebunkert werden, was die Rückfahrt um weitere Tage verzögert. Die Verunsicherung unter den Passagieren ist in dieser Zeit nicht kleiner geworden. „Man fühlt sich ein bisschen wie in einem Gefängnis, weil man nicht mehr selbst entscheiden darf“, sagt die junge Passagierin, das Lächeln aus ihrem Gesicht ist verschwunden.
Mühlebach will ohne Gäste zurück nach Deutschland fahren, weil er weiß, dass ein Corona-Ausbruch auf dem Atlantik fern von Intensivstationen und Beatmungsgeräten die Glitzerwelt Kreuzfahrtschiff in ein dunkles Bild gesetzt hätte. Zumal beinahe alle Passagiere der Corona-Risikogruppe angehören.
Der Gau geschieht auf einem anderen Schiff: Zehn Tage nach dem Anlegen in Cuxhaven müssen 2900
Crewmitglieder von „Mein Schiff 3“an Bord ausharren. Unter ihnen sind acht Mitglieder positiv. Weil Crewmitglieder zum Teil seit 50 Tagen keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatten, geraten sie an ihre Grenzen. Möbel werden kurz und klein geschlagen, die Polizei greift ein.
Für die Kreuzfahrtbranche, so sind sich Beobachter einig, wird die Corona-Krise heftige Folgen haben. Weltweit sind rund 350 Schiffe auf Stand-by gestellt, sie kosten aktuell Unmengen Geld. Vor Corona glichen die Riesen der Meere Gelddruckmaschinen: Die Zahl der Kreuzfahrtpassagiere in Deutschland verdreifachte sich in den vergangenen zehn Jahren nahezu.
Und wie geht’s weiter? Schulterzucken bei Elmar Mühlebach. „Unsere Reederei hat gut verdient, die Schiffe sind abbezahlt. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen“, sagt der Kapitän, der wie seine Kollegen freiwillig auf Gehalt verzichtet. Nach Einschätzung des Sigmaringers werden die Schiffe die letzten sein, die auf die touristische Bühne zurückkehren. Die meisten Crewmitglieder bekommen während der Krise keinen Cent, ihre Verträge sind befristet. Ein Ereignis wie die Pandemie räumt der Reederei zudem ein außerordentliches Kündigungsrecht ein. Die 42 000 Euro, die die Passagiere vor dem Einlaufen sammeln, wirken da wie ein Trinkgeld, denn pro Nase kommen gerade 200 Euro zusammen.
Alle Gäste und Passagiere sind wohlauf, als die MS Amera in Bremerhaven anlegt. Nicht nur für Kapitän Mühlebach wird dies für längere Zeit die letzte Kreuzfahrt gewesen sein.