Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Mehr als nur Schutz
Schützen, verbergen, täuschen – Masken können auch dem Amüsement und dem Verbrechen dienen.
Die Maske ist ja dieser Tage in und über aller Munde. Doch nicht nur zu Corona-Zeiten hat die Verhüllung des Gesichts Konjunktur. Masken, wie hier beim Karneval in Venedig, dienen in besseren Tagen auch dem Amüsement. Und natürlich nutzen sie auch Kriminelle.
- Seit Kurzem gilt in Deutschland die sogenannte Maskenpflicht. Mund und Nase müssen bedeckt sein. Nicht jeder gewöhnt sich sofort an diesen Anblick. Traditionell wird ein verhülltes Gesicht als Bedrohung empfunden. Fremd ist unserer Kultur eben dieses Verhüllen aber nicht, wie ein Blick in die Kunst- und Kulturgeschichte zeigt. Die Maske steht im Abendland oft für Täuschung und Verstellung. Sie kann ihren Träger aber auch schützen. Nicht nur vor dem Coronavirus.
Die hellgrüne Krawatte akkurat gebunden, den Hemdkragen ordentlich gebügelt, der markante Bürstenhaarschnitt sitzt. Frontal blickt der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in die Kamera. Ein Motiv, wie wir es aus Wahlkampfzeiten kennen. Ein Detail ist dieser Tage aber neu. Mund und Nase hat der Ministerpräsident mit einem grauen Stück Stoff bedeckt, natürlich mit den drei Löwen aus dem Landeswappen. „Aber bitte mit Maske!“heißt es in den Anzeigen, die im ganzen Bundesland erschienen sind. In Bussen, Bahnen oder beim Einkaufen gilt nun die Maskenpflicht.
Räuber, pyrotechnikaffine Fußballfans und Radikale jeglicher politischer Couleur verhüllen gerne ihre Gesichter. In unserem Kulturkreis hat das Tragen einer Maske etwas Bedrohliches. Diese Wahrnehmung verschiebt sich gerade. „Welch eine Ironie“, sagt Barbara Vinken. „Heute gilt ein Vermummungsgebot statt eines Vermummungsverbotes.“Die Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin beobachtet: „Die Stoffmaske ist das Mode-Accessoire der Saison.“Sozusagen das Mask-have. Auf Instagram sind Exemplare von Louis Vuitton, Fendi oder Gucci zu sehen. Auch wenn es wertvolle Stücke aus feinster Seide gibt, die wundervoll zu tragen sind, in ihrer primären Funktion ist diese Maske ein simples Stück Schutzkleidung.
Die Ikonografie der Gesichtsmaske ist eng mit der Geschichte der Pandemien verbunden. Im 14. Jahrhundert wütete die Pest in ganz Europa. Zuerst bekamen die Menschen Beulen, dann erschienen überall am Körper schwarze Flecken. „Sie waren immer die Vorboten des Todes“, beobachtete der florentinische Schriftsteller Giovanni Boccaccio in seinem „Dekameron.“Allein in der italienischen Handelsstadt sollen 100 000 Menschen der Pest zum Opfer gefallen sein, europaweit waren es wohl mehr als 20 Millionen.
In den folgenden Jahrhunderten fand die Pest Eingang in die bildenden Künste. In Albrecht Dürers Holzschnitt „Die vier apokalyptischen Reiter“von 1511 fegen Reiter über alles hinweg, was sich ihnen in den Weg stellt, und bringen das Unglück über die Menschen. Als Seuchenbringer gilt der Reiter mit Pfeil und Bogen, der mit seinen Pestpfeilen jedermann treffen könnte.
Bis in das 17. Jahrhundert hinein hatten Bildnisse von Pestheiligen und Kupferstiche von Pestdoktoren, wie wir sie aus Dürers Heimat Nürnberg
kennen, Blütezeit. Die Pestdoktoren waren meist in bodenlange Umhänge gehüllt und bedeckten ihre Gesichter mit Masken, aus denen lange Schnäbel herausragten. Diese waren gefüllt mit wohlriechenden Duftstoffen wie Wacholder, Kampfer oder Gewürznelken. Die Kräuter hatten einen medizinischen Zweck, sagt Werner Berschneider. Sie sollten die Ärzte vor der Pest schützen. Berschneider ist Vorsitzender des Vereins „Kulturerbe Rainhaus“in Lindau, dem früheren Quarantänehaus der Stadt. Auch am Bodensee sei der Schutzanzug des „Dr. Schnabel“wohl bekannt gewesen. Heute symbolisiert der „medico della peste“im venezianischen Karneval das Grauen vergangener Jahrhunderte.
Anfang des 20. Jahrhunderts forderte die Spanische Grippe rund 50 Millionen Tote – mehr als im Ersten Weltkrieg Soldaten und Zivilisten starben. Eine Fotografie aus San Francisco ist berühmt: Bei der Parade zum Waffenstillstandstag am 11. November 1918 auf der Market Street stechen die Mundschutzmasken der Teilnehmer hervor. Weißer Mull bedeckt die Gesichter. Kurz zuvor hatte die Stadt eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit verhängt. Bürgermeister James Rolph machte deutlich: „Jeder, der seine Maske vergisst, wird sterben.“
Ihm folgte nicht jeder, viele Bürger rebellierten. Eine „Anti-Masken-Liga“gründete sich, die sich in ihren verfassungsgemäßen Rechten eingeschränkt sah. Wie sich Geschichte doch immer wieder wiederholt. Seit Wochen protestieren auch in deutschen Städten mehrere Tausend Menschen gegen die Corona-Regeln. In Stuttgart trugen sie Transparente mit Slogans wie: „Wir wollen unsere Grundrechte zurück“.
Venedig ist bis heute die Stadt der Masken. „Die venezianische Maske“, schreibt der Reiseschriftsteller Johann Jacob Volkmann 1770 in seinen „Nachrichten aus Italien“, bestehe aus einem Mantel aus schwarzer Seide, einer geschlechtsneutralen weißen Halbmaske und einer schulterlangen Kopfbedeckung. Was er beschreibt, wird auch Bauta genannt. Außerhalb des Karnevals war sie dem Stadtadel vorbehalten und diente hauptsächlich der Anonymität. Hinter der Maske blieben die Adligen unerkannt und konnten ihren Geschäften nachgehen, auch dunklen.
In der Anonymität gaben sich die Venezianer verbotenen Vergnügungen hin und schlichen sich als Frauen verkleidet in Nonnenklöster. Die Anonymität der Maske gewährte einen Schutzraum für das Ausleben von sexuellen Wünschen und Begierden. Jahrhunderte später verbargen in Stanley Kubricks Film „Eyes Wide Shut“die Teilnehmer aus der New
Yorker Oberschicht bei ausufernden Orgien ihre Gesichter hinter venezianischen Masken. Jeder durfte mit jedem.
Aber nicht nur zum erotischen Vergnügen wird das Gesicht verborgen. Auch in der schwäbisch-alemannischen Fasnet vermummen sich die Narren. Kostüme und Masken machen die Träger unkenntlich, sodass diese in andere Rollen schlüpfen können. Es geht darum, dem Alltag zu entfliehen und eine andere Persönlichkeit anzunehmen, schreibt der Volkskundler und Fasnetsexperte Werner Mezger in seinem Werk „Das große Buch der schwäbisch-alemannischen Fasnet“. Die Maskerade ermöglicht es auch, eine andere Person voller Fröhlichkeit und Gelöstheit zu sein.
In den bildenden Künsten haben Masken eine lange Tradition. Bekannt für seine Masken ist der belgische Maler James Ensor. Schon in seiner Kindheit in Ostende war er im großelterlichen Souvenirladen von Karnevalsmasken umgeben, ist in der Biografie „Ensor – die Legende vom Ich“von Joachim Heusinger von Waldegg zu lesen. Die Maske sei für ihn Sinnbild der Verstellung und des Sich-Versteckens gewesen, schreibt dieser.
In Ensors Gemälde „Der Einzug Christi in Brüssel an Fasnacht“von 1888 läuft eine maskierte Menschenmenge auf den Betrachter zu. Die bürgerliche Gesellschaft erscheint als Ansammlung von Masken, verwischt und in bleichen Farben. Mit dem Motiv der Maske demaskiert er alles Scheinheilige und Bösartige, schreibt Nina Zimmer, die 2014 die Ausstellung „Die überraschten Masken. James Ensor“im Kunstmuseum Basel kuratierte.
Auch Berufsrevolutionäre lieben das Stück Stoff. Bei den mexikanischen Zapatistas oder den feministischen Punk-Rockerinnen von Pussy Riot wurde die Maske zum Symbol des Widerstands. Bei der kapitalismuskritischen „Occupy Wall Street“-Bewegung war die Maske Guy Fawkes ein zentrales Motiv, bekannt aus dem illustrierten Roman „V for Vendetta“und dem gleichnamigen Film. Guy Fawkes war ein katholischer Offizier, der 1605 das englische Parlament in die Luft sprengen und den König töten wollte. Im Film nutzen die Bürger sein Konterfei, um im Schutze der Anonymität gegen ein totalitäres Regime im fiktiven England zu demonstrieren
Das Lachen des verhinderten Königsmörders Guy Fawkes ist auch das Symbol des Internetkollektivs „Anonymous“, eines weltweiten Netzes von Hackern und Demonstranten, geworden. Mittlerweile ist die Maske zu einer Ikone der Popkultur geworden. Jeder kann sie sich aufsetzen und unter dem Schutz der Maske seine Interessen verfolgen.