Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Lieber kauen als quetschen
Pürierte Zwischenmahlzeiten im Plastikbeutel sind teuer, schlecht für die Zähne und bremsen die Sprachentwicklung
Der Markt für Kleinkind-Lebensmittel wie Obstbeutel boomt. Die Ursache sehen Experten in der gestiegenen Berufstätigkeit beider Eltern – und in einem fehlenden Verbot für Werbung, die sich gezielt an Kinder richtet.
Winzige Puddingbecher, leere Quetschbeutel, Verpackungen von Fruchtschnitten und Müsliriegeln purzeln aus einem großen Korb auf den Boden. „Das ist der Abfall von zwei Wochen Frühstückspause in unserer Kleinkindgruppe“, sagt Erzieherin Silvia Jäckel beim Elternabend im Kindergarten. Sie ärgert sich vor allem über den großen Müllberg. Und über den vielen Zucker, den die extra für Ein- bis Dreijährige abgepackten Produkte enthalten. „Bis zu sechs Stück Würfelzucker stecken in einem Quetschie mit püriertem Obst“, sagt sie.
Im Supermarktregal lesen Eltern davon nichts. Auf den bunt bedruckten Beuteln, aus denen der Nachwuchs den Obstbrei saugen kann, ist viel gesundes Obst abgebildet. „100 Prozent Frucht“steht darauf. Oder „ohne Zuckerzusatz“. Dass die ObstQuetschies dennoch wahre Zuckerbomben sind, liegt an der Verarbeitung des Obstes. „Es wird oft ohne Schale püriert und mit Fruchtmark oder Fruchtsaftkonzentrat angereichert“, sagt Anneke von Reeken, Ernährungsexpertin bei der Verbraucherzentrale Niedersachsen.
Sie hat in einem Marktcheck Obst in Quetschbeuteln verschiedener Hersteller genauer unter die Lupe genommen und kritisiert nicht nur den Süßigkeiten-Faktor des Quetschies: „Die Produkte sind mehr als doppelt so teuer wie Obst aus dem Gläschen.“Und anders als beim Biss in einen Apfel hat die Kaumuskulatur beim Obst-Nuckeln nichts zu tun. „Das ist schlecht für die Sprachentwicklung und fördert obendrein Karies, weil der süße Brei genuckelt wird.“
Dennoch sind im Jahr 2017 dem Marktforschungsinstitut Nielsen zufolge in Deutschland Quetschbeutel für 90 Millionen Euro verkauft worden. Als die Quetschbeutel 2012 langsam auf den Markt kamen, lag der Jahresumsatz aller Hersteller noch bei acht Millionen Euro. Kein Wunder also, dass die Unternehmen neben Obst inzwischen auch ganze Nudel-Soßen-Mahlzeiten, Milchreis und Joghurt zum Nuckeln abfüllen.
Auch abseits der Quetschbeutel haben sich die Ein- bis Dreijährigen zu einer höchst attraktiven Zielgruppe für die Lebensmittelbranche entwickelt. Im Supermarkt können deren Eltern zwischen Dutzenden süßen und salzigen Kleinkind-Knabbereien wählen und dem Nachwuchs eigenes Müsli und Extra-Pudding im Minibecher in den Einkaufswagen legen.
Damit die Konsumenten, die noch nicht mal richtig sprechen geschweige denn lesen können, ihre Spezialprodukte überhaupt erkennen, sind diese quietsch-bunt verpackt und mit lustigen Tieren oder Comichelden bedruckt. Die lesenden Eltern verführen dann Botschaften wie „ohne Zuckerzusatz“oder „gut fürs Immunsystem“zum Kauf, sagt Ernährungsexpertin Anneke von Reeken von der Verbraucherzentrale Niedersachsen.
Dank gigantischer Ausgaben für Kinder-Marketing können heute schon zweijährige Kinder Mc Donald’s und Burger King auseinanderhalten. Im Alter von zehn Jahren kennt ein Kind bereits 300 bis 400 Markennamen, heißt es bei der Marktforschungsagentur concept m.
Da in den ersten Lebensjahren das Essverhalten wesentlich und langfristig geprägt wird, haben sich die großen Lebensmittelhersteller eigentlich verpflichtet, keine Werbung für „unausgewogene Produkte“an Kinder unter zwölf Jahren zu richten. Verbraucherschützer halten diese Selbstbeschränkung aber für wirkungslos, weil die Hersteller sie häufig missachten.
Der Reutlinger Kinderarzt Till Reckert, der auch für den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte aktiv ist, rät Eltern deshalb: „Streichen Sie alles, was im Fernsehen beworben wird, vom Speiseplan. Damit liegt man zu 99 Prozent richtig.“
Dass das im Familienalltag nicht immer so einfach ist, wissen aber auch die Ernährungsexperten. „Durch die zunehmende Berufstätigkeit beider Eltern werden die Zeitfenster für Einkaufen, Kochen und Essen in den Familien kleiner“, sagt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der
Universität Göttingen. „Fertige, halbfertige und einfach zuzubereitende Lebensmittel erleichtern es da, etwas auf den Tisch oder in die Kindergartentasche zu zaubern.“
Und wenn der Kindergartenfreund dann einen bunten Quetschbeutel aus seiner Tasche holt, will das eigene Kind den klein geschnittenen Apfel oft auch nicht mehr essen. Ernährungsexpertin Anneke von Reeken rät, dem Quengeln trotzdem nicht nachzugeben und die Apfelschnitze immer wieder in die Vesperdose zu legen. „Oft wird das Obst irgendwann doch akzeptiert.“
In dem Kindergarten, in dem Silvia Jäckel Erzieherin ist, dürfen die Kinder seit dem Elternabend gar keine verpackten Lebensmittel und Süßigkeiten mehr mitbringen. Das haben die Eltern beschlossen, nachdem sie den Müllberg gesehen hatten.