Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Angeklagte schweigen
Prozess wegen Mehrfachvergewaltigung einer 14-Jährigen
ULM (mö) - Fünf junge Männer im Alter zwischen 15 und 27 Jahren, die in der Halloween-Nacht 2019 eine 14-Jährige betäubt und dann mehrfach vergewaltigt haben sollen, schweigen zu den Tatvorwürfen. Beim Prozessauftakt vor einer Jugendkammer des Landgerichts Ulm wollten die aus dem Irak, aus Iran und Afghanistan stammenden Asylbewerber am Donnerstag weder zur Tat noch zu ihren Lebensläufen Angaben machen.
Die Angeklagten sollen die alkoholisierte Jugendliche am Abend des 31. Oktober in der Ulmer Innenstadt überredet haben, mit ihnen zu einer Flüchtlingsunterkunft in Illerkirchberg (Alb-Donau-Kreis) zu fahren. Vier der Männer sollen sich dort neunmal an der Schülerin vergangen haben, heißt es in der Anklage. Einer der Beschuldigten hatte die Taten laut Staatsanwaltschaft eingeräumt. Die übrigen Männer bestreiten die Vorwürfe.
- Mit gesenktem Kopf, an Füßen und Händen gefesselt, schleppen sich an diesem Donnerstagmorgen drei junge Männer in die zum Verhandlungssaal des Landgerichts Ulm umfunktionierte Donauhalle auf dem Ulmer Messegelände. In Corona-Zeiten weicht das Gericht zwangsweise in größere Räume aus. Justizbeamte bringen die Angeklagten aus der Untersuchungshaft in den Saal. Die Männer wirken deutlich jünger als sie in Wirklichkeit sind. Ihre 16, 17 und 27 Jahre sieht man ihnen nicht an. Zwei von ihnen verdecken mit Aktenordnern und Zeitungen ihr Gesicht, ein anderer mustert die Journalisten und Juristen, während er mit seinen Verteidigern spricht. Wenige Meter weiter sitzen auf der Seite der Anklage ein 15-Jähriger und ein 25-Jähriger, sie sind auf freiem Fuß. Auch sie werden von ihren Anwälten begleitet.
Die fünf jungen Männer sollen in der Halloween-Nacht
2019 nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Ulm ein 14-jähriges Mädchen in IllerkirchbergBeutelreusch (AlbDonau-Kreis) mit Betäubungsmitteln wehrlos gemacht haben. Den angeklagten Asylbewerbern aus Afghanistan, Iran und dem Irak wird mehrfache Vergewaltigung oder Beteiligung vorgeworfen. Der 15-jährige Beschuldigte, der nicht in Untersuchungshaft sitzt, hat die Taten laut Staatsanwaltschaft eingeräumt. Die übrigen bestreiten die Vorwürfe. Das Landgericht Ulm hat für den Prozess bis November insgesamt 13 Verhandlungstage angesetzt.
Während Oberstaatsanwalt Michael Bischofberger die Anklage verliest, ist in der Donauhalle die Betroffenheit zu spüren. Nur die Dolmetscher übersetzen leise in die Muttersprachen der Angeklagten, Farsi und Kurdisch. Zwar kennen die Verteidiger, die Gutachter, die Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe, die Richter und die Schöffen die Vorwürfe bereits. Doch ist auch diesen Fachleuten anzumerken, dass ihnen die Brutalität der zur Last gelegten Taten nahegeht.
Die Angeklagten halten sich am 31. Oktober, dem Halloween-Abend in der Ulmer Innenstadt auf. Dort treffen sie das offenbar angetrunkene 14-jährige Mädchen – die spätere Geschädigte. Wie die Staatsanwaltschaft weiter ausführt, kennt der 15-Jährige aus Iran, der heute auf freiem Fuß ist, die Schülerin, die aus dem Ulmer Umland stammt. Wohl auch seinetwegen lässt sich das Mädchen auf ein Gespräch ein. Die Männer überreden die 14-Jährige, mit ihnen in eine Asylbewerberunterkunft ins zehn Kilometer entfernte Illerkirchberg zu fahren, in der einer der Angeklagten zu der Zeit lebt. Wie die Polizei später ermittelt, nehmen sie den Linienbus ab Neu-Ulm und beschließen, ihr späteres Opfer mit Betäubungsmitteln gefügig zu machen und später zum Geschlechtsverkehr zu zwingen.
Kurz nach 23 Uhr stoppt die Linie 70 in Illerkirchberg-Beutelreusch, die Männer und das Mädchen gehen die letzten Meter zur Asylbewerberunterkunft, einem abbruchreifen Haus, zu Fuß. Der Putz ist verdreckt und der vermutlich einst rote Lack der Fensterläden abgeplatzt. Das Gras im Hof ist fast kniehoch, und hinter dem Gebäude liegen Wiesen und Wald. Der Weiler besteht nur aus ein paar wenigen Gebäuden. Eine Hauptstraße führt an dem kleinen Ort lediglich vorbei. Kaum etwas ist zu hören, Geräusche kommen nur aus der Natur. Der perfekte Ort, wenn man ungestört sein möchte. „Dort angekommen sollen zunächst zwei der Angeklagten der 14-jährigen Schülerin Betäubungsmittel verabreicht haben, wodurch diese stark benommen geworden sein soll und nicht mehr in der Lage, sich zur Wehr zu setzen“, hält der Staatsanwalt den Männern vor. Sie hätten Gewalt angewendet, den Arm des Mädchens nach oben gedrückt, sie zur Einnahme des Amphetamins gezwungen.
Nach Ansicht der Ermittler beginnt das Martyrium der Schülerin wenig später: Einer der Männer, er ist 16 Jahre alt und stammt aus dem Irak, vergewaltigt das Mädchen in der Nacht bis zum frühen Morgen insgesamt fünfmal. Dabei bleibt es nicht. Obwohl die 14-Jährige Schmerzen hat und bittet, von ihr abzulassen, nutzen die Männer ihre
Wehrlosigkeit aus: „Drei weitere Angeklagte sollen die Geschädigte ebenfalls vergewaltigt haben; einer der Angeklagten soll selbst keinen erzwungenen Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt haben. Er soll allerdings den anderen zu ihrer Tat Hilfe geleistet haben, indem er der 14-Jährigen Betäubungsmittel verabreichte“, wirft Oberstaatsanwalt Bischofberger den Männern vor. Bei diesem Angeklagten handelt es sich um den aus Iran stammenden, 15 Jahre alten Bekannten der Schülerin – der jetzt auf freiem Fuß ist und die Taten gestanden hat.
Während die 14-Jährige in der Unterkunft missbraucht wird, glauben ihre Eltern sie in der sicheren Begleitung ihrer Freundinnen. Als das Mädchen nach der Schreckensnacht an Allerheiligen, dem 1. November, mit dem Bus heimfährt und von der Mutter abgeholt wird, verständigt diese sofort die Polizei. Die Ermittlungen konzentrieren sich schnell auf die heute Angeklagten.
Schwer bewaffnet stürmt die Polizei im November die Asylbewerberunterkunft in Illerkirchberg. Insgesamt werden vier Wohnungen durchsucht: außer in Illerkirchberg in Stuttgart sowie im Filstal. Die Tatverdächtigen werden verhaftet, ihre Handys ausgewertet. Das Mädchen wird von einem Gynäkologen und Kriminaltechnikern untersucht. Eine Auswertung der toxikologischen Untersuchungen ergibt, dass im Blut des Opfers verschiedene Rauschgifte nachzuweisen sind. „Die Spurenlage ist überzeugend“, sagt Oberstaatsanwalt Bischofberger, „wir haben glaubhafte Aussagen der Geschädigten.“
Die Tat hat im November 2019 die Region aufgewühlt. Daher äußerte sich auch Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch in zwei Stellungnahmen. Die Schuld an dieser Tat liege, so Czisch, „ausschließlich und eindeutig“bei den mutmaßlichen Tätern. Er habe „keinen Zweifel daran“, so der CDU-Politiker weiter, „dass Polizei und Staatsanwaltschaft der Ermittlung und Bestrafung der Täter mit all ihren verfügbaren Mitteln nachgehen werden“. Ein solches Verbrechen sei „schrecklich und kaum zu fassen“. Er sei dankbar „für die schnelle Reaktion der Sicherheitsbehörden. Das ist ein ganz wichtiges Signal. Der Rechtsstaat muss jetzt klare Kante zeigen. Und zwar egal, woher jemand kommt.“
Czischs erste Einlassung hatte vor allem in sozialen Netzwerken zu Diskussionen geführt: „Ich frage mich allerdings, was ein 14-jähriges
Mädchen nachts in Ulm will. Eltern haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass ein minderjähriges Mädchen nicht allein in der Stadt rumläuft. Ich sage das so deutlich, weil wir alle in die Pflicht nehmen müssen, wenn wir solche Fälle verhindern wollen.“Später ruderte Czisch zurück. Er bedauere es, dass seine Äußerung „missverständlich“gewesen sei: „Selbstverständlich trägt das Mädchen keinerlei Schuld.“
Nicht nur in Oberschwaben erhitzen sich die Gemüter. Auch in Freiburg läuft seit etwa einem Jahr ein aufsehenerregender Prozess um die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen vor einer Disco. Der Prozess hat Ende Juni 2019 begonnen. Angeklagt sind elf Männer, die meisten von ihnen Flüchtlinge. Ihnen wird vorgeworfen, Mitte Oktober 2018 die junge Frau in einem Gebüsch vergewaltigt oder ihr nicht geholfen zu haben. Sie bestreiten dies oder schweigen zu den Vorwürfen.
Zurück nach Ulm. An diesem Donnerstag protestieren vor der Donauhalle einige AfD-Mitglieder und haben ein Banner mitgebracht, auf dem zu lesen ist: „Ihr erzieht unsere Kinder zu Wölfen und lasst die Wölfe ins Land“. Zu ihnen zählt auch Markus Mössle, AfD-Stadtrat in Ulm, selbst als Neonazi und wegen Bankraubs verurteilt. Im Saal eröffnet derweil die Große Strafkammer als Jugendschutzkammer unter der Leitung des Vorsitzenden Richters am Landgericht, Wolfgang Fischer, den Prozess. Die Angeklagten wollen weder zur Tat noch zu ihren Lebensläufen Angaben machen, sie bestätigen lediglich ihre Herkunft. Warum sie in Deutschland sind, seit wann sie hier leben: Das Gericht erfährt am ersten Verhandlungstag, der bereits nach einer Stunde endet, nichts. 13 Verhandlungstage sind angesetzt, 28 Zeugen sollen gehört werden.
Am Eröffnungstag stehen die Angeklagten und die Anklage im Mittelpunkt, die Schülerin hat sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen. Doch die 14-Jährige ist vorerst nicht anwesend, seit der Tat leidet sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und befindet sich in therapeutischer Behandlung. Sie hat nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Schule gewechselt: „Und wir informieren die Familie über die nächsten Schritte unseres Hauses“, sagt Oberstaatsanwalt Bischofberger, „wir wollen weitere Belastungen für die Schülerin vermeiden.“
Sie wird durch Rechtsanwalt Wolfram Schädler vertreten, der bis 2013 als Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof tätig war und seither vor allem als Opferanwalt tätig wird: „So wie ein Täter seinen Bewährungshelfer kriegt, muss das Opfer auch seinen Opferhelfer bekommen.“Nach einer Strafanzeige höre ein Opfer eine Weile nichts mehr von der Justiz. In dieser Zeit könne der Opferanwalt Einsicht in die Akten nehmen und dem Betroffenen den Ablauf des Verfahrens erklären. „Wir haben also gelernt, dass die Information für Opfer von Straftaten sehr, sehr wichtig ist.“In Ulm möchte Schädler erreichen, dass nicht nur bei den Aussagen der Schülerin die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen wird: „Straftaten sollen ihnen (den Opfern, d. Red.) nicht noch einmal passieren, doch für den Strafprozess steht dieser erstrangige Wunsch der Opfer kaum auf dem Programm.“
Völlig offen ist das Strafmaß. Ende 2016 ist das Sexualstrafrecht erneut verschärft worden. Nach dem Motto „Nein heißt Nein“ist seitdem nicht mehr entscheidend, dass der Täter Gewalt angewendet oder mit ihr gedroht hat, sondern dass er sich über den Willen des Opfers hinweggesetzt hat. Oberstaatsanwalt Bischofberger erklärt, dass für die unter das Jugendstrafrecht fallenden Angeklagten eine Strafe „nach erzieherischen Gesichtspunkten und der Schwere der Schuld“zu bemessen sei. Für die erwachsenen Täter sehe das Gesetz Freiheitsstrafen zwischen fünf und 15 Jahren vor.
Am Montag, 20. Juli, 13.30 Uhr, soll der Prozess fortgesetzt werden. Wegen der Corona-Pandemie wurde er wegen der Abstandsund Hygieneregeln im Donausaal der Ulmer Messe eröffnet und soll dann im Oktober ins Ulmer Kornhaus ziehen. Da es sich um eine Verhandlung vor der Jugendschutzkammer handelt, könnte der Prozess zumindest zeitweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden.
„So wie ein Täter seinen Bewährungshelfer kriegt, muss das Opfer auch seinen Opferhelfer bekommen.“
Rechtsanwalt Wolfram Schädler vertritt in der Nebenklage das Vergewaltigungsopfer