Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein langer Weg zur Asylreform
EU-Innenminister verhandeln über neue Migrationspolitik – „Frontstaaten“unzufrieden
BRÜSSEL - Als „gewaltiges Werk“bezeichnete Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Donnerstag die geplante Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Die Videokonferenz der Innenminister dauerte deutlich länger als geplant, doch Seehofer als Vertreter der deutschen Ratspräsidentschaft sah ebenso wie die zuständige Kommissarin Ylva Johansson großen Einigungswillen unter den Beteiligten. Alle seien sich einig, dass ein Neubeginn notwendig sei.
Mit fünf Verordnungen und zahlreichen Empfehlungen will die EUKommission die Asyl- und Migrationspolitik der EU grundlegend reformieren. Nun beugten sich erstmals die Innenminister der Mitgliedsländer über die Vorschläge. Seehofer räumte ein, dass die Positionen noch weit auseinanderliegen. Er wolle aber versuchen, vor Ende des deutschen Präsidentschaftshalbjahres eine politische Einigung zu erzielen und dabei alle 27 Mitgliedsstaaten ins Boot zu holen. Theoretisch würde eine qualifizierte Mehrheit genügen. Doch es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass so stark in die Innenpolitik eingreifende Beschlüsse nicht gegen Widerstand durchsetzbar sind.
„Die Lösung muss fair und gerecht sein und allen Mitgliedsstaaten helfen“, so der deutsche Innenminister. Der von der Kommission vorgelegte Vorschlag spreche alle Probleme an: Den Schutz der Außengrenzen, gegenseitige Unterstützung, die illegale Weiterwanderung in ein anderes EU-Land, die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Durchreiseländern und die Rückführung. „Die fünf Anrainerstaaten ans Mittelmeer müssen am Schluss eine Gewissheit haben, dass sie nicht auf den Flüchtlingen sitzen bleiben. Es ist nun unsere Aufgabe, ihnen diese Gewissheit zu geben“, so der Minister.
Ob das gelingt, ist fraglich, denn die Interessen sind extrem unterschiedlich, die Fronten verhärtet. Am Vorabend des Ministertreffens hatte Seehofer gemeinsam mit EUKommissarin Ylva Johansson die sogenannten „Frontstaaten“zu einer Videokonferenz geladen. Gemeint sind damit die fünf Länder, die aufgrund ihrer Küstenlage am Rand der EU mit besonders hohen Flüchtlingszahlen zu kämpfen haben: Italien, Spanien, Malta, Griechenland und Zypern. Sie alle sind mit den von der Kommission vorgelegten Vorschlägen nicht glücklich.
Aus ihrer Sicht wird das ungeliebte Dublin-System nicht abgeschafft, sondern nur abgemildert. Die sogenannte Dublin-Verordnung legt fest, dass ein Flüchtling sein Antragsverfahren dort durchlaufen muss, wo er erstmals europäischen Boden betritt. Schon bisher kann dieses Prinzip durchbrochen werden, wenn Familienangehörige bereits anderswo in der EU untergekommen sind. Der Personenkreis, der davon profitiert, wird im neuen Verordnungsvorschlag auf Geschwister und auf Familien ausgeweitet, die erst nach der Ausreise aus dem Heimatland entstanden sind. Auch wer sprachliche Vorkenntnisse oder ein Visum eines anderen Landes vorweisen kann, darf weiterreisen.
Gleichzeitig steigen die Anforderungen für die Erstaufnahmeländer. Schon bisher mussten sie jeden Flüchtling registrieren und die Fingerabdrücke in die Eurodac-Kartei einspeisen. Künftig sollen sie auch den Gesundheitszustand abklären, eine mögliche kriminelle Gefährdung abschätzen und die Menschen danach vorsortieren, ob sie große oder geringe Chancen haben, einen Asylstatus zu erlangen. Wer chancenlos ist, soll nach einem Schnellverfahren möglichst sofort zurückgeschickt werden. Alle anderen werden nach einem Schlüssel auf andere Länder verteilt – aber nur in Zeiten, wo der Wanderungsdruck durch Krisen oder Konflikte besonders hoch ist. Nicht zu Unrecht sorgen sich die „Frontstaaten“, dass durch diese erweiterten Vorprüfungen noch größere Übergangslager entstehen als bisher und dass sie – wie Moria auf Lesbos – zum problematischen Dauerprovisorium werden könnten. In Griechenland zeigt sich, dass ein Staat auch dann von den Prozeduren überfordert sein kann, wenn er Unterstützung aus Brüssel erhält – 2,6 Milliarden Euro flossen in den vergangenen Jahren dorthin, um in der Flüchtlingspolitik zu helfen.
Laut Seehofer haben zwei Drittel der in Europa landenden Migranten keinen Anspruch auf Schutz. „Es ist deshalb nur logisch, diese Personen schnellstmöglich in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Wenn dieses Prinzip durchgesetzt werden kann in sehr kurzer Zeit, dann hätten wir zwei Drittel weniger, die nach Europa einreisen.“Mit sogenannten
„Rückführungspatenschaften“sollen diejenigen Länder verstärkt an Abschiebungen mitwirken, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Dieser von der Kommission vorgeschlagene „Solidaritätsmechanismus“enthält aber viele Fragezeichen. Wenn die italienische oder griechische Regierung es nicht schafft, einen abgewiesenen Nigerianer in sein Heimatland zurückzuschicken, soll sich zum Beispiel der diplomatische Dienst Polens darum bemühen. Warschau soll auch den Abschiebeflug organisieren und finanzieren. Wie das konkret funktionieren soll und welches Land für Menschen zuständig ist, die nicht abgeschoben werden können, ist aber weiter völlig unklar. Diese Streitpunkte bis zum Dezemberrat auszuräumen, scheint so gut wie unmöglich.