Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein Jahr danach
Nach dem Anschlag von Halle versprach die Politik mehr Sicherheit für Juden – Das hat sich seither getan
Eine neue Tür erhielt die Synagoge in Halle an der Saale bereits im Juli, doch was hat sich politisch im Jahr nach dem Anschlag auf das jüdische Gotteshaus getan? Ein jährlicher Aktionstag soll künftig immer am 9. Oktober, dem Datum des Anschlags, für Solidarität werben. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, sagte am Donnerstag, man müsse die jüdische Gemeinschaft auch im Alltagsleben besser schützen. Südwest-Innenminister Thomas Strobl (CDU) erklärte, Baden-Württemberg habe nach dem Anschlag umgehend eine siebenstellige Summe für die Sicherheit von jüdischen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. „Wir stellen uns mit allen Mitteln konsequent gegen Extremismus, Rassismus und Antisemitismus“, sagte Strobl der „Schwäbischen Zeitung“.
RAVENSBURG/ULM - Es ist einer der schwersten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte: Am 9. Oktober 2019 tötete Stephan B. zwei Menschen, nachdem er zuvor versucht hatte, bewaffnet in die Synagoge in Halle einzudringen. Nur eine verriegelte Holztür hatte bei dem rechtsextremistischen Anschlag ein noch größeres Blutbad verhindert. Polizeischutz vor Ort gab es nicht. Daraufhin forderten viele jüdische Gemeinden mehr Schutz für ihre Einrichtungen. Die Politik auf Bundesund Länderebene versprach, zu reagieren. Doch auch ein Jahr nach dem Attentat von Halle reißt die Reihe antisemitischer Vorfälle nicht ab. Das zeigt nicht zuletzt die Attacke auf einen jüdischen Studenten in Hamburg am vergangenen Sonntag.
Um jüdische Einrichtungen vor Gewalttaten zu schützen hat der Bund nach dem Anschlag in Halle zusätzliche Gelder bereitgestellt. 22 Millionen Euro sollte in Umbaumaßnahmen wie schusssichere Türen, Zäune oder Einlasschleusen fließen. Und auch die meisten Bundesländer nahmen zusätzliches Geld in die Hand: Baden-Württemberg versprach eine Millionen Euro, Bayern 3 Millionen Euro für den Schutz jüdischer Gemeinden.
„Die Umsetzung der konkreten Maßnahmen ist in vollem Gange und 2019 und 2020 sind bereits alle bereitstehenden Mittel bewilligt und gebunden“, sagt Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) der „Schwäbischen Zeitung“. Im Austausch mit den Israelitischen Religionsgemeinschaften Baden (IRG Baden) und Württembergs (IRGW) wurde laut Innenministerium bereits geklärt, für welche Sicherheitsmaßnahmen an Gebäuden die Mittel verwendet werden sollen. Die beiden Religionsgemeinschaften im Südwesten haben rund 8500 Mitglieder. „Zu den Maßnahmen können wir aus Sicherheitsgründen keine Angaben machen“, so ein Sprecher des Innenministeriums.
Zentral für den Schutz jüdischer Gemeinden ist die Arbeit der Polizei. Sie orientiert sich laut Innenministerium an der Gefährdungsbewertung des Landeskriminalamtes und der örtlich zuständigen Polizeipräsidien. „Dabei werden auch Szenarien wie der Anschlag in Halle oder die aktuelle Tat in Hamburg berücksichtigt“, sagt der Sprecher. So bewacht die Polizei etwa regelmäßig Gebäude oder ist bei einzelnen Veranstaltungen anwesend. Nach dem Anschlag in Halle hat Baden-Württembergs Landesregierung 30 zusätzliche Stellen bei der Polizei geschaffen, die vor allem Ermittlungen im Bereich der Hasskriminalität unterstützen. Auch der Verfassungsschutz wurde mit 25 neuen Stellen ausgestattet und soll in den Jahren 2020 und 2021 mit jeweils drei Neustellen weiter gestärkt werden. „Zusätzlich haben wir im Landesamt für Verfassungsschutz nun eine eigene Abteilung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingerichtet“, sagt Minister Strobl. Diese gehe gezielt Hinweisen auf rechtsextremistische Verdachtsfälle nach, bearbeite Radikalisierungsprozesse und fahnde im Netz nach Hasspostings. Die Zusammenarbeit mit der Polizei hat sich in den vergangenen Monaten verbessert, so der Eindruck in jüdischen Gemeinden in der Region. „Wir stehen im ständigen Austausch mit den Behörden. Sie hören unsere Sorgen und informieren uns schnell und unbürokratisch“, sagt Shneur Trebnik, Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Ulm. Insbesondere seit dem Anschlag von Halle seien die Beamten deutlich mehr für das Thema Antisemitismus sensibilisiert.
Das zusätzliche Geld der Landesregierung sei angekommen, so Trebnik. „Aber wenn man eine Million Euro durch alle jüdischen Gemeinden im Land teilt, bleibt pro Gemeinde nicht mehr so viel übrig.“Zudem sei die Frage nach der Sicherheit jüdischer Einrichtungen eine „gefährliche“: „Ein Attentäter wird leider immer irgendwie Sicherheitslücken finden“, so der Rabbiner. Ein Jahr nach Halle sei es den Mitgliedern seiner Gemeinde aber besonders wichtig, in einen normalen Alltag zu finden. „Wir wollen ja nicht wie in einem
Atomschutzbunker leben“, so Trebnik. Auch in Bayern ist Geld in zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen geflossen: Ergänzend zu den drei Millionen Euro, die nach dem Anschlag bereitgestellt wurden, kamen noch einmal fünf Millionen Euro hinzu. Bislang konkret zur Umsetzung freigegeben sind sechs Millionen Euro, wie das bayerische Innenministerium auf Anfrage mitteilt. Trotzdem müsse beim Thema Antisemitismus noch viel getan werden, sagt Ludwig Spaenle (CSU), Bayerns Beauftragter gegen Antisemitismus: „Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens und eine damit verbundene Solidarität mit Jüdinnen und Juden.“Prävention mit Wissen gegen Judenhass und Antisemitismus, das zum Beispiel an Schulen vermittelt werde, sei dabei genau so wichtig wie ein repressives Vorgehen der Sicherheitsbehörden.
Auch der Ravensburger Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser, der zugleich Antisemitismusbeauftragte der FDP-Fraktion ist, sieht Nachholbedarf : „Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle sollten wir nicht mehr über fehlenden Schutz von Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen reden müssen, doch der antisemitische Angriff in Hamburg belehrt uns leider eines Besseren“, sagt er der „Schwäbischen Zeitung“. Auch das Land Baden-Württemberg müsse nun alles daran setzen, dass Juden im nächsten Jahr sicher und geschützt 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern können.