Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Auf dem Vormarsch
Die Freude in deutschen Wissenschaftskreisen war groß, als das schwedische Nobelpreis-Komitee im Oktober bekannt gab, dass Reinhard Genzel vom Max-Planck-Institut in Garching einer der drei Träger des Physik-Nobelpreises 2020 ist. Die eigentliche Sensation aus Stockholm war aber die Auszeichnung für Genzels Mit-Preisträgerin Andrea Ghez. Die amerikanische Astronomin ist erst die vierte Frau in der 119-jährigen Geschichte des Nobelpreises, der diese weltweit bedeutendste wissenschaftliche Anerkennung im Fachgebiet Physik zugesprochen worden ist.
Mit ganz besonderer Genugtuung wird man diese Nachricht bei „Komm, mach MINT“aufgenommen haben, einer bundesweiten Netzwerk-Initiative, die Mädchen und Frauen für MINT-Studiengänge und -Berufe begeistern möchte. „Komm, mach MINT“wird Andrea Ghez gewiss als leuchtendes Beispiel dafür propagieren, was Frauen in naturwissenschaftlichtechnischen Berufen erreichen können. Schon in den vergangenen Jahren hat das Interesse von Frauen an den MINT-Studiengängen
(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zugenommen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der MINT-Studienanfängerinnen 2019 auf 119 134 (2018: 116 840) gestiegen. Im längerfristigen Vergleich wird die positive Entwicklung noch deutlicher. 2008 lag diese Zahl erst bei 59 599. Als besonders erfreulich bezeichnet „Komm, mach MINT“die Entwicklung im Bereich Elektrotechnik/ Informationstechnik. Hier lag der Anteil der weiblichen Erstsemester 2008 noch unter zehn Prozent und erreichte 2019 bereits 17,5 Prozent. Bei den Anfängern eines Informatikstudiums hat sich die Frauenquote seit 2008 bundesweit von unter 20 Prozent auf 25,1 Prozent erhöht.
So optimistisch diese Zahlen auch stimmen mögen, so zeigen sie doch, dass die Situation bei den Frauen in MINT-Studiengängen und MINTBerufen noch keineswegs so ist, wie sie in einem modernen, aufgeklärten Industrieland sein sollte. Das belegen auch Daten aus unserer Region.
So gibt es etwa am Standort Ravensburg der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) bei den Frauenanteilen an MINTStudiengängen noch immer viel Luft nach oben. In der Elektrotechnik und Informatik liegen diese Werte bei jeweils 14,2 Prozent, im Maschinenbau bei 16,2 Prozent und in der Luft- und Raumfahrttechnik bei 19 Prozent.
Die Hochschule Ravensburg-Weingarten meldet auf Anfrage bei den Bachelor-Studiengängen Angewandte Informatik beziehungsweise Elektrotechnik und Informationstechnik Frauenanteile von 9,8 und 11,0 Prozent. Der Maschinenbau kommt auf 11,1 Prozent. Bei den Master-Studiengängen sind es in der Informatik nur 4,1 Prozent, im internationalen Studiengang Electrical Engineering and Embedded Systems aber immerhin schon 22 Prozent.
Die Entwicklung des Frauenanteils an den Studierenden der MINT-Fächer ist bei der Leitung der Hochschule Ravensburg-Weingarten durchaus ein wichtiges Thema. „Unsere Hochschule ist seit Langem darum bemüht, die Attraktivität der technischen Fächer gerade auch für Frauen zu betonen. Und wir verzeichnen, wenn auch in kleinen Schritten, einen steigenden Frauenanteil sowohl auf der Seite der Studierenden wie auch auf der Seite der Lehrenden. Die Internationalisierung unseres Studienangebots und unser Bemühen um eine familiengerechte Hochschule leisten dazu einen wichtigen Beitrag“, sagt Thomas Spägele, Rektor der Hochschule Ravensburg-Weingarten. „Interesse kann man nicht verordnen. Was wir aber sagen können, ist, dass es keinen Grund gibt, technischen Themen oder mutmaßlichen Männerdomänen vorauseilenden Respekt entgegenzubringen. Wir animieren junge Frauen, sich eines Ingenieur- oder Informatikstudiums anzunehmen, auch weil wir überzeugt sind, dass verschiedene Lebenswirklichkeiten
und Perspektiven sowohl dem Studium wie auch der Hochschule und schließlich der Berufswelt zugutekommen“, sagt Spägele. Die Professorinnen Heike Solga und Lisa Pfahl von der Universität Innsbruck haben in einer Studie die Gründe für das Ungleichgewicht der Geschlechter in den MINT-Berufen untersucht. Sie stellten dabei unter anderem fest, dass es den Mädchen an Rollenvorbildern bei den Entscheidungen über Ausbildung, Studium und Beruf fehle. Frauen wie die promovierte Ingenieurin Heike Hanagarth, die führende Managementfunktionen bei der damaligen MTU Friedrichshafen GmbH und bei BMW hatte, bevor sie 2013 in den Vorstand der Deutschen Bahn AG berufen wurde, sind auch heute noch die Ausnahme.
Und Frauen, die es als Absolventinnen eines MINT-Studiums nach oben geschafft haben, berichten nicht immer nur Erfreuliches über die Umstände ihrer Karriere in einem nach wie vor von Männern dominierten beruflichen Umfeld. Dass es sich für die Unternehmen aber auch wirtschaftlich lohnt, mehr Frauen mit Führungsaufgaben zu betrauen, zeigt eine Studie der Universität Tübingen aus dem Jahr 2019. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass es Betrieben mit einem hohen Anteil weiblicher Führungskräfte besser gelingt, Risiken zu senken und damit für nachhaltigen Erfolg zu sorgen.