Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Mit System vorbeigezogen
Weshalb der VfB Stuttgart nach zehn Jahren erstmals wieder Favorit gegen Schalke 04 ist
STUTTGART - Pellegrino Matarazzo befindet sich in einer komfortablen Situation. Der Trainer des VfB Stuttgart muss sich derzeit nicht mit der Tabelle der Fußball-Bundesliga beschäftigen. „Ich schaue nur sehr wenig drauf“, behauptet der 43-Jährige. „Ich nehme wahr, wo wir stehen. Aber ich weiß tatsächlich nicht, wie viele Punkte es nach oben oder unten sind.“So ganz kauft man dem sonst so detailverliebten Trainer diese Aussagen nicht ab – zumal sich der studierte Mathematiker schon von seinem Grundinteresse her sehr gerne mit Statistiken beschäftigt. Und so wird sicherlich auch dem US-Amerikaner bekannt sein, dass mit einer Zwischenbilanz von 29 Punkten nach 22 Spieltagen noch nie eine Mannschaft aus der Bundesliga abgestiegen ist. Ein Blick auf die Tabelle würde also sicher helfen, nach den zuletzt turbulenten Wochen rund um den VfB mit etwas mehr Ruhe in das letzte Saisondrittel zu gehen.
Beim kommenden Gegner der Schwaben löst der Blick auf die Statistik hingegen etwas ganz anderes aus: Grauen. Gerade einmal neun Punkte hat der FC Schalke 04 vor dem Gastspiel in Stuttgart am Samstag (15.30 Uhr/Sky) gesammelt. Nur ein mickriger Sieg ist den Gelsenkirchenern in dieser Spielzeit gelungen. Mit einer so schlechten Ausbeute nach 22 Spieltagen hat noch kein Bundesligist den Klassenerhalt geschafft. „Als Schalker musst du an Wunder glauben. Aber es wird natürlich immer schwieriger“, sagte der Ex-Knappe Kevin Kuranyi, der 2005 vom VfB in den Pott gewechselt war, den „Ruhr Nachrichten“. „Es ist ein Jammer, ich leide mit Schalke.“
Auch Pellegrino Matarazzo hat Mitleid mit dem Gegner. „Man wünscht einem Verein nie den Abstieg“, sagt er. Schalke sei ein Verein mit viel Tradition und Kultur, ein Gewinn für die Bundesliga. „Aber“– und da offenbart der VfB-Trainer dann doch noch seine Begeisterung für Zahlen – „Fußball ist ein Ergebnissport. Auf- und Abstieg gehören dazu und was Schalke passiert, ist schon mehreren Vereinen passiert“. Unter anderem dem VfB 2019.
Überhaupt: In den vergangenen zehn Jahren standen die Schalker in der Schlussabrechnung immer vor den Schwaben, oder spielten gar eine Klasse höher. Noch vor zweieinhalb
Jahren beendeten die Blau-Weißen die Saison als Vizemeister hinter den Bayern, während die Stuttgarter erst im Sommer nach einem Jahr im Unterhaus wieder in die Bundesliga zurückgekehrt sind. Wie konnten sich die Kräfteverhältnisse in so kurzer Zeit verschieben? „Ich bin zu weit weg, um die Situation auf Schalke zu beurteilen“, sagt Matarazzo. Jedenfalls sei Schalke von der individuellen Qualität her besser, als es der aktuelle Tabellenstand hergebe. „Aber es gehört mehr dazu als individuelle Qualität, um Ergebnisse zu erzielen.“
Im Gegensatz zum VfB-Trainer hat Kevin Kuranyi noch immer gute Kontakte nach Gelsenkirchen und traut sich ein Urteil zu. Die negative Entwicklung habe nicht erst in dieser Saison begonnen, „es wurden schon vorher viele falsche Entscheidungen getroffen. Dann setzt eine Negativspirale ein, die nur unterbrochen werden kann, wenn die richtigen Gegenmaßnahmen getroffen werden. Das hat Schalke leider nicht geschafft.“Transfers, die für mehr Unruhe als Stabilität sorgten, mehrere geräuschvolle Wechsel in der Führungsebene, Verletzungssorgen sind nur einige der Gründe für den Niedergang des Traditionsclubs.
Hinzu kommt der Wegfall der Fans in der Corona-Krise. „Der ganze Verein ist geprägt von Emotionalität. Wenn man sonst bei jedem Heimspiel vor 62 000 Zuschauern spielt und auf einmal sind es null, dann ist das natürlich ein großes Handicap“, sagte Schalkes Torwarttrainer Simon Henzler kürzlich im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Auch VfB-Trainer Matarazzo vermisst den Rückhalt der Anhänger. „Es ist klar, dass Zuschauer eine gewisse Rolle spielen, was die Emotion im Fußball angeht“, sagt er. „Auch wir hätten noch mehr Energie , wenn wir unsere Fans im Rücken hätten.“Doch auch ohne diese Unterstützung hat der VfB in dieser Saison beeindruckende Fortschritte gemacht. Anders als bei der zusammengewürfelten Schalker Mannschaft ist beim klug zusammengestellten Stuttgarter Kader eine klare Grundidee erkennbar: Eine junge, hungrige Truppe, verstärkt von wenigen erfahrenen Kräften, die vor allem über ihren Tempofußball kommt. „Wir sind auf einem sehr guten Weg“, sagt der Trainer, ohne zu sagen, wo dieser einmal enden soll. „Das Ziel ist open end.“Die Tabelle ist ihm dabei wieder einmal egal.