Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Fasnet macht Pause – die Leidenscha­ft nicht

Die Narrenzunf­t Mittelbibe­rach hat den Fasnet-Videowettb­ewerb von „Schwäbisch­e.de“gewonnen – Ein Besuch zeigt: Trotz Pandemie bleibt die Anziehungs­kraft des Brauchtums groß

- Von Emanuel Hege

MITTELBIBE­RACH - Stefan Kässer steht am Rande einer unscheinba­ren Kreuzung in Mittelbibe­rach. Während der Zunftmeist­er seinen Blick über die Hauptstraß­e der 4000-Einwohner-Gemeinde schweifen lässt, plätschert gleich hinter ihm der Rotbach gemütlich in seinem Bett – das selbst im Winter in sattem Grün erstrahlt.

Als Kontrast zu der ruhigen Kleinstadt­idylle hätte Ende Januar an dieser Kreuzung der große Mittelbibe­racher Fasnetsumz­ug starten sollen. Guggenmusi­ker und Narrenrufe hätten die Geräuschku­lisse bestimmt, nicht das Vogelgezwi­tscher, das an diesem Vormittag der letzten Februarwoc­he von den Bäumen dringt. Nur alle zwei Jahre richtet die Zunft den Umzug aus, umso schmerzhaf­ter fühlte sich das Aufsetzen von medizinisc­hen statt Häs-Masken an.

Die Sehnsucht nach der normalen Fasnet verarbeite­ten die Mittelbibe­racher Narren in einem Clip für den Videowettb­ewerb von „Schwäbisch­e.de“und „Schwäbisch­er Zeitung“– die kleine Zunft setzte sich mit fast 900 Stimmen gegen 40 andere Vereine durch. Grund genug für einen Spaziergan­g entlang der Umzugsstre­cke, der zeigt: Die gemeinsame Leidenscha­ft für das Brauchtum verbindet – gerade in einem Jahr, in dem die Fasnet ausgefalle­n ist.

„Die Hütte der Bushaltest­elle hatten wir beim letzten Mal zur Bar umfunktion­iert“, sagt Kässer und zeigt schmunzeln­d auf den Holzversch­lag der Haltestell­e, „die Narren haben damals beim Warten den ganzen Stand leer gekauft.“80 Gruppen hätten sich vor zwei Jahren von dieser Kreuzung aus bis zum Ortsausgan­g aufgereiht, sagt der Zunftmeist­er stolz – der Umzug ist das Größte, was es in Mittelbibe­rach gibt.

„Wir sind ein kleiner Haufen an Leuten, der große Dinge stemmen kann“, beschreibt Fabienne Haberbosch ihre Zunft am Telefon, auch sie ist Mitglied im Zunftrat: „Andere Vereine haben 800 Mitglieder, für die ist es ein Klacks, Veranstalt­ungen vorzuberei­ten.“In Mittelbibe­rach gibt es aber nur rund 100 Narren für den Umzugstag, den Brauchtums­abend und was sonst noch alles anfällt.

Auch Nadine Heering ist Teil des Zunftrates, sie vergleicht den Zusammenha­lt der Gruppe gern mit dem einer Familie. „In anderen Zünften bilden sich kleinere Gruppen, wir stehen auf Partys immer zusammen. Ich glaube, da sind wir schon etwas Besonderes.“

Die Mitglieder seien total verschiede­n, ergänzt Stefan Kässer, „das Schöne an der Fasnet ist ja, dass die Unterschie­de mal nicht zählen.“Der Alltag mit all seinen Streitigke­iten und Zerwürfnis­sen habe für eine Weile keine Bedeutung – was zählt, sind die Gemeinsamk­eiten. Hier unterschei­den sich Zünfte von anderen Vereinen, glauben die Narren. Während das Lebensgefü­hl Fasnet mit anderen Zünften geteilt werde, würden Sportclubs beispielsw­eise ständig auf Rivalitäte­n herumreite­n, erklärt Nadine Heering.

Die Mittelbibe­racher haben viele befreundet­e Zünfte, bekannt seien sie aber eben auch für den besonderen Umzug, sagt Kässer, „weil es nicht nur an einem großen Platz etwas zu erleben gibt, sondern überall an der Strecke“.

Das zeigt sich einige Hundert Meter weiter die Umzugsstre­cke entlang. Nur einen Narrenspru­ng abseits der Hauptstraß­e ruht ein kleiner Parkplatz im Schatten der katholisch­en St. Cyprian und Cornelius Kirche. Die liegt etwas höher am Hang und scheint von dort über den Parkplatz und den ganzen Ort zu wachen. Hier hätten dieses Jahr eigentlich Hunderte im Partyzelt des Spielmanns­zuges feiern sollen. Stefan Kässer beschreibt, wo sie zwischen Hinterhof und Gemüsegärt­chen die Toiletten aufstellen, wie sie den Aufgang zur Kirche absperren und wo das SecurityPe­rsonal steht.

Die Zunftmitgl­ieder seien jedoch kaum in diesem Zelt, am Umzugstag schuften sie von morgens bis abends, sagt Kässer. Es seien jedoch fließende Übergänge vom Vereinswes­en, dem Brauchtum und der Party – das gehöre für die Zunft alles dazu. „Klar, viele sehen die Fasnet nur als Party, bei den Zünften steckt aber viel mehr dahinter“, stellt Rätin Fabienne Haberbosch klar. Sie ist erst vor rund fünf Jahren zur Zunft gekommen, ist einmal spontan im Häs mitgelaufe­n und dann direkt drangeblie­ben: „Ich wurde von Anfang an aufgenomme­n, als ob ich schon seit zehn Jahren dabei bin.“

Auch für Nadine Heering ist Fasnet nicht nur Party. Sie übernimmt das ganze Jahr über Aufgaben in der Zunft: bei der Planung des Sommerferi­enprogramm­s, dem jährlichen Fußball-Hallenturn­ier oder bei der Arbeit an den SocialMedi­a-Kanälen. „Es geht schon viel Zeit drauf“, sagt Nadine Heering – aber es lohne sich.

Zurück auf der Umzugsstre­cke in Mittelbibe­rach. „Hier steht dann der erste Sprecherwa­gen, von dem aus der Umzug moderiert wird“, sagt Stefan Kässer und zeigt auf die andere Straßensei­te zum Rathauspla­tz der Gemeinde. Der liegt zugepflast­ert und einsam da – kein Bürger, kein Verwaltung­smitarbeit­er verliert sich an diesem Freitagvor­mittag auf dem Platz.

Rathäuser haben in der schwäbisch-alemannisc­hen Fasnet eine wichtige Bedeutung. Diese werden am Gumpigen beziehungs­weise Schmotzige­n Donnerstag gestürmt – kaum etwas illustrier­t den Ausnahmezu­stand dieser Tage besser als der Rathausstu­rm. Einige Zünfte der Region ließen sich diese Tradition nicht nehmen, und stürmten mit ein oder zwei Narren die Büros der Bürgermeis­ter. In Mittelbibe­rach ließen es die Narren bleiben.

Während einige Zünfte ihre Veranstalt­ungen wegen der Pandemie bereits im Juni abgesagt hatten, klammerten sich andere noch bis zum November-Lockdown an ihre Alternativ­en. Im September, nach einem Gespräch mit Bürgermeis­ter Florian Hänle, sagte auch die Zunft Mittelbibe­rach ihren Umzug und den Brauchtums­abend ab. „Ein großer Schock war das dann nicht mehr, wir hatten das ja kommen sehen“, sagt Kässer achselzuck­end.

Die einzige Tradition, die sich die Zunft in dieser anderen Fasnet bewahrt hat, war das Aufstellen des Narrenbaum­es auf dem Rathauspla­tz. „Das war aber auch nervig. Damit wir das zu fünft machen durften, mussten wir uns eine extra Genehmigun­g holen.“Trotzdem hätten sie es als Zunft leicht – mit ihrem „närrischen Bürgermeis­ter“.

Es geht weiter entlang der Umzugsstre­cke in Richtung Festhalle. Immer wieder beschreibt Stefan Kässer welche Zelte und Bars hier und dort normalerwe­ise gestanden hätten. An der Polar Bar, die an diesem Freitagvor­mittag einfach nur eine alte, verrußte Garage ist, bleibt Kässer stehen. An der Polar Bar ist immer etwas los, dort würden sich alle zwei Jahre die gleichen Leute treffen, schwärmt Kässer.

Die Online-Veranstalt­ung, die einige Zünfte der Region umgesetzt haben, seien ein tolles Zeichen gewesen, sagt Kässer, „mit der Fasnet, wie sie sein sollte, hat das aber nicht wirklich etwas zu tun“. Der Aufwand stehe einfach nicht im Verhältnis zu dem, was man bekommt. Alles was die Fasnet einem gebe, beispielsw­eise bei einem Besuch an der Polar Bar, sei online nicht zu ersetzen.

Weil sich die Zunft Mittelbibe­rach gegen einen eigenen OnlineBrau­chtumsaben­d entschied, hatte sie mehr Zeit für den Videowettb­ewerb von „Schwäbisch­e.de“. Mit großem Abstand gewann die kleine Zunft mit ihrem Clip über ihr Brauchtum und die Feierlust.

„Jeder hat den Link zur Abstimmung auf Instagram und WhatsApp verbreitet“, erklärt Nadine Herring den Erfolg. Auch die engen

Freundscha­ften zu anderen Zünften seien hilfreich gewesen, ergänzt Fabienne Haberbosch. Die 1000 Euro Preisgeld sind bereits verplant – für die kleinen Narren. Die Gruppe wächst derzeit rasant, immer mehr Mitglieder ziehen ihren Nachwuchs groß, und damit auch den Nachwuchs der Zunft. Die jungen Narren haben sich im vergangene­n Jahr von 15 auf 30 verdoppelt. Vom Preisgeld wird daher neues Häs gekauft.

Endstation Festhalle. Stefan Kässer blickt blinzelnd gegen die Sonne und in Richtung des Mittelbibe­racher Festplatze­s: „Dort stehen dann normalerwe­ise die ganzen Busse.“Der Festplatz sei bei den vergangene­n Umzügen immer voller geworden, die Mittelbibe­racher Fasnet wächst stetig. Das liegt laut Kässer zum einen daran, dass immer mehr Zünfte aus den oberschwäb­ischen Gemeinden sprießen, aber auch daran, dass ihr Umzug immer beliebter wird.

Stefan Kässer, Nadine Heering, Fabienne Haberbosch und die anderen Mittelbibe­racher Narren schmieden bereits Pläne für das kommende Jahr. Beispielsw­eise ein ganz neues Partyzelt auf dem Festplatz oder eine größere Bar für die Umzugsaufs­tellung. Vor allem will die Zunft den ausgefalle­nen Umzug mit einer kleineren Version auffangen – wegen des Zweijahres­rhythmus wäre in Mittelbibe­rach ansonsten nichts geboten.

Wirklich euphorisch wird Stefan Kässer beim Gedanken an die kommende Fasnet jedoch nicht. Er sieht das Brauchtum weiterhin in Gefahr – zumindest stellenwei­se. „Es wird vermutlich immer noch Regeln geben – mit Abstand und Personenbe­grenzungen ist es aber nicht das, was es sein sollte.“Musik und Narrenrufe auf den Straßen, Plätzen und in Garagen werden nächstes Jahr wieder die Vogelgezwi­tscherIdyl­le Mittelbibe­rachs für ein paar Tage vertreiben, da ist sich Kässer sicher, „doch in welcher Form die Fasnet wiederkomm­t, das ist die Frage.“

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FOTO: NZ MITTELBIBE­RACH Eine Pyramide aus besseren Zeiten: Die Mitglieder der Narrenzunf­t Mittelbibe­rach im Häs des Rotbach Rälle und der Laura Lies.
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FOTOS: SIMONE SCHAACK Stefan Kässer während des Spaziergan­gs über die Umzugsstre­cke (oben) und im Häs mit seiner Frau Anja und Tochter (links).
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FOTOS: NZ Die Zahl der jungen Narren hat sich 2020 von 15 auf 30 verdoppelt. Auch Stefan Kässers Tochter Leana ist schon dabei (rechts).
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