Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Vom Juden, der einfach nicht vergessen will
Antisemitismus zeigt sich nicht erst in Handgreiflichkeiten, sondern ist in vielen Köpfen latent vorhanden
Es ist schon ein paar Jahre her. Am Ecktisch der kleinen Gaststätte saßen drei ältere Männer und politisierten. Einer von ihnen verkündete vorwurfsvoll: „Der Franzose vergisst nichts. Und der Jude auch nicht.“
Wir waren ausgerechnet an diesem Tag zurückgekommen von einem Treffen mit Freunden in Grenoble. Die Region Dauphiné war während der deutschen Besetzung ein Zentrum der Résistance. Auch unsere Freunde wissen von Familienmitgliedern, die damals verfolgt, verhaftet oder gar getötet wurden. Vergessen haben sie das nicht. Aber das ist Vergangenheit, und jetzt sind sie unsere Freunde. Ich dachte auch an eine Begegnung viele Jahre zuvor in der Altstadt von Jerusalem, kurz nach Sonnenuntergang am Sabbat. Ein orthodoxer Jude hatte uns reden gehört. Und er fragte uns aus über unser Land, das gerade im Prozess der Vereinigung von Ost und West war. Auch er hatte den Holocaust nicht vergessen, aber wir seien doch viel zu jung, um Schuld auf uns geladen zu haben.
Nein, vergessen haben weder die Franzosen noch die Juden. Wie sollten sie auch? Ignatz Bubis, einst Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte auch nicht vergessen. „Als ich am 16. Januar 1945 befreit worden war, musste ich feststellen, dass weder mein Vater noch meine Schwester noch mein Bruder mit seiner Frau und Tochter überlebt hatten, um nur von nahen Verwandten zu sprechen.“Hat der alte Politisierer in der Gaststätte vielleicht erwartet, dass Bubis und all die anderen Überlebenden des Holocaust den Mord an ihren Familien und Freunden einfach vergessen würden? Hätte er selbst in einer solchen Lage vergessen wollen oder können?
Im Jahr 2020 wurden in Deutschland 2275 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund bekannt. Das sind mehr als sechs an jedem Tag, so viele wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Der alte Politisierer hat natürlich keine Straftat begangen. Er hat nur ein bisschen gestichelt, nur ein bisschen Gift verspritzt. Aber die Diskriminierung einer Minderheit beginnt ja nicht erst, wenn jemand handgreiflich wird. Sie äußert sich schon, wenn „der Jude, der nicht vergisst“pauschalisiert, zum Stereotyp wird. Wenn eine Minderheit schon sprachlich ausgegrenzt wird, indem von „Juden und Deutschen“die Rede ist, als wären Juden in Deutschland keine Deutschen. Wenn es gegen die
Diskriminierung eines Geschlechts oder von Farbigen geht, reagiert die Öffentlichkeit sehr viel sensibler als in der Judenfrage.
Die Auseinandersetzung um das Vergessen ist eine von vielen Facetten des Antisemitismus. Die Juden sollen damit moralisch ins Unrecht gesetzt werden, im Gegensatz zu den Antisemiten, die gerne alles vergessen und – wie es so schön heißt – endlich einen Schlussstrich ziehen möchten. Doch solange die Juden den Holocaust nicht vergessen, können die Deutschen auch nicht vergessen. Denn so lange werden sie daran erinnert. Weil viele von ihnen das hassen, hassen sie jene, deren Gedenken sie am Vergessen hindert. Der einstige Chef der Partei Die Republikaner, Franz Schönhuber, brachte das auf die Formel: „Derjenige, der in Deutschland für den Antisemitismus sorgt, ist der Bubis!“
Die Erwartung, dass es eines Tages keine Antisemiten mehr geben könnte, ist irreal. Im Jahr 1896 schrieb Theodor Herzl, einer der Begründer des Zionismus, in seinem Buch „Der Judenstaat“: „Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten.“Der Judenhass
ist wie eine Erbsünde, sie wird von Generation zu Generation weitergereicht, ebenso seine Rechtfertigungen, auch wenn diese längst als Schein und Lüge enttarnt worden sind.
Schon Papst Paul III. prangerte im Jahr 1540 Christen an, die „um sich das Besitztum selbiger Hebräer mit einem gewissen Anstand anzueignen“, Juden des Ritualmordes beschuldigten. Im Laufe der Zeit kamen immer neue Lügen dazu, etwa die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion. Knapp ein halbes Jahrtausend nach Paul III. beschuldigen die Anhänger der im Kern antisemitischen QAnon-Bewegung in den USA die angeblich „verjudeten“Demokraten des Ritualmordes, um Kinderblut zu trinken. Ganz neu ist: Die jüdische Bankiersfamilie Rothschild habe im vergangenen Jahr mit einem jüngst entwickelten Laser aus dem Weltraum die verheerenden Waldbrände in Kalifornien mit vielen Toten ausgelöst, so die Abgeordnete im US-Kongress Marjorie Taylor Greene.
Man kann solche Leute für einen bislang unbehandelten Fall für den Psychiater halten, aber bei Weitem nicht alle sind dieser Meinung. Laut einer Umfrage glauben in den USA rund 30 Prozent der republikanischen Wählerinnen und Wähler solche Erzählungen. In
Deutschland wiederum gelten 15 Prozent der Bevölkerung als überzeugt antisemitisch, weitere 15 Prozent als latent antisemitisch eingestellt. Womit wir hierzulande bei 30 Prozent der Bevölkerung sind, die zumindest dem oben erwähnten alten Politisierer mehr oder weniger Recht geben würden.
Und die übrigen 70 Prozent? Auch wenn sie es versuchen sollten, die Antisemiten zu bekehren, werden sie wenig Erfolg haben. Um die Bibel zu bemühen: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Antisemit seine Vorurteile aufgibt. Das wusste auch Theodor Herzl. „Ich will in dieser Schrift keine Verteidigung der Juden vornehmen. Sie wäre nutzlos. Alles Vernünftige und sogar alles Sentimentale ist über diesen Gegenstand schon gesagt worden“, schreibt er im „Judenstaat“. Viel geholfen hat auch nicht die schon mehr als 200 Jahre alte Judenemanzipation, ausgehend von Preußen. Sie war von oben verordnet und wurde selbst von vielen damals Herrschenden nicht mit voller Überzeugung vorangebracht. Wie sollte da das Volk, verseucht mit religiösen und sozialen Vorurteilen, überzeugt werden?
Umso wichtiger ist zu verhindern, dass junge Leute die Vorurteile oder gar den Hass der alten Generationen übernehmen. Aber wenn Jugendliche heute das ehemalige Konzentrationslager Dachau besuchen, bekommen sie eine weichgespülte Version der Gewalt vorgesetzt. „Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Fantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort (damals) gespielt wurde“, urteilt eine KZ-Überlebende. Auch die Fotos von den Leichenbergen, die die amerikanischen Befreier dort 1945 zu sehen bekamen, sind verschwunden, mit dem Argument, sie könnten Kindern unter den Besuchern Schaden zufügen. Welchen Schaden sie nehmen können, wenn sie nicht mit den Folgen des mörderischen Antisemitismus konfrontiert werden, bleibt unerwähnt.
Gerade junge Menschen müssen wissen und erleben, wohin Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus führen. Und sie müssen lernen, dass sie nicht nur dafür verantwortlich sind, was geschieht, sondern auch dafür, was sie geschehen lassen, so der einstige Bundespräsident Roman Herzog. Niemand kann sagen: „Was geht mich das an, ich bin doch kein Jude.“Denn, so der französische Philosoph Jean Paul Sartre: „Jude ist jeder, den die Welt als solchen ansieht, auf die Religion kommt es dabei nicht an.“