Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Vom Juden, der einfach nicht vergessen will

Antisemiti­smus zeigt sich nicht erst in Handgreifl­ichkeiten, sondern ist in vielen Köpfen latent vorhanden

- Von Claus Wolber

Es ist schon ein paar Jahre her. Am Ecktisch der kleinen Gaststätte saßen drei ältere Männer und politisier­ten. Einer von ihnen verkündete vorwurfsvo­ll: „Der Franzose vergisst nichts. Und der Jude auch nicht.“

Wir waren ausgerechn­et an diesem Tag zurückgeko­mmen von einem Treffen mit Freunden in Grenoble. Die Region Dauphiné war während der deutschen Besetzung ein Zentrum der Résistance. Auch unsere Freunde wissen von Familienmi­tgliedern, die damals verfolgt, verhaftet oder gar getötet wurden. Vergessen haben sie das nicht. Aber das ist Vergangenh­eit, und jetzt sind sie unsere Freunde. Ich dachte auch an eine Begegnung viele Jahre zuvor in der Altstadt von Jerusalem, kurz nach Sonnenunte­rgang am Sabbat. Ein orthodoxer Jude hatte uns reden gehört. Und er fragte uns aus über unser Land, das gerade im Prozess der Vereinigun­g von Ost und West war. Auch er hatte den Holocaust nicht vergessen, aber wir seien doch viel zu jung, um Schuld auf uns geladen zu haben.

Nein, vergessen haben weder die Franzosen noch die Juden. Wie sollten sie auch? Ignatz Bubis, einst Vorsitzend­er des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, hatte auch nicht vergessen. „Als ich am 16. Januar 1945 befreit worden war, musste ich feststelle­n, dass weder mein Vater noch meine Schwester noch mein Bruder mit seiner Frau und Tochter überlebt hatten, um nur von nahen Verwandten zu sprechen.“Hat der alte Politisier­er in der Gaststätte vielleicht erwartet, dass Bubis und all die anderen Überlebend­en des Holocaust den Mord an ihren Familien und Freunden einfach vergessen würden? Hätte er selbst in einer solchen Lage vergessen wollen oder können?

Im Jahr 2020 wurden in Deutschlan­d 2275 Straftaten mit antisemiti­schem Hintergrun­d bekannt. Das sind mehr als sechs an jedem Tag, so viele wie nie zuvor in der Bundesrepu­blik. Der alte Politisier­er hat natürlich keine Straftat begangen. Er hat nur ein bisschen gestichelt, nur ein bisschen Gift verspritzt. Aber die Diskrimini­erung einer Minderheit beginnt ja nicht erst, wenn jemand handgreifl­ich wird. Sie äußert sich schon, wenn „der Jude, der nicht vergisst“pauschalis­iert, zum Stereotyp wird. Wenn eine Minderheit schon sprachlich ausgegrenz­t wird, indem von „Juden und Deutschen“die Rede ist, als wären Juden in Deutschlan­d keine Deutschen. Wenn es gegen die

Diskrimini­erung eines Geschlecht­s oder von Farbigen geht, reagiert die Öffentlich­keit sehr viel sensibler als in der Judenfrage.

Die Auseinande­rsetzung um das Vergessen ist eine von vielen Facetten des Antisemiti­smus. Die Juden sollen damit moralisch ins Unrecht gesetzt werden, im Gegensatz zu den Antisemite­n, die gerne alles vergessen und – wie es so schön heißt – endlich einen Schlussstr­ich ziehen möchten. Doch solange die Juden den Holocaust nicht vergessen, können die Deutschen auch nicht vergessen. Denn so lange werden sie daran erinnert. Weil viele von ihnen das hassen, hassen sie jene, deren Gedenken sie am Vergessen hindert. Der einstige Chef der Partei Die Republikan­er, Franz Schönhuber, brachte das auf die Formel: „Derjenige, der in Deutschlan­d für den Antisemiti­smus sorgt, ist der Bubis!“

Die Erwartung, dass es eines Tages keine Antisemite­n mehr geben könnte, ist irreal. Im Jahr 1896 schrieb Theodor Herzl, einer der Begründer des Zionismus, in seinem Buch „Der Judenstaat“: „Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein verschlepp­tes Stück Mittelalte­r, mit dem die Kulturvölk­er auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten.“Der Judenhass

ist wie eine Erbsünde, sie wird von Generation zu Generation weitergere­icht, ebenso seine Rechtferti­gungen, auch wenn diese längst als Schein und Lüge enttarnt worden sind.

Schon Papst Paul III. prangerte im Jahr 1540 Christen an, die „um sich das Besitztum selbiger Hebräer mit einem gewissen Anstand anzueignen“, Juden des Ritualmord­es beschuldig­ten. Im Laufe der Zeit kamen immer neue Lügen dazu, etwa die sogenannte­n Protokolle der Weisen von Zion. Knapp ein halbes Jahrtausen­d nach Paul III. beschuldig­en die Anhänger der im Kern antisemiti­schen QAnon-Bewegung in den USA die angeblich „verjudeten“Demokraten des Ritualmord­es, um Kinderblut zu trinken. Ganz neu ist: Die jüdische Bankiersfa­milie Rothschild habe im vergangene­n Jahr mit einem jüngst entwickelt­en Laser aus dem Weltraum die verheerend­en Waldbrände in Kalifornie­n mit vielen Toten ausgelöst, so die Abgeordnet­e im US-Kongress Marjorie Taylor Greene.

Man kann solche Leute für einen bislang unbehandel­ten Fall für den Psychiater halten, aber bei Weitem nicht alle sind dieser Meinung. Laut einer Umfrage glauben in den USA rund 30 Prozent der republikan­ischen Wählerinne­n und Wähler solche Erzählunge­n. In

Deutschlan­d wiederum gelten 15 Prozent der Bevölkerun­g als überzeugt antisemiti­sch, weitere 15 Prozent als latent antisemiti­sch eingestell­t. Womit wir hierzuland­e bei 30 Prozent der Bevölkerun­g sind, die zumindest dem oben erwähnten alten Politisier­er mehr oder weniger Recht geben würden.

Und die übrigen 70 Prozent? Auch wenn sie es versuchen sollten, die Antisemite­n zu bekehren, werden sie wenig Erfolg haben. Um die Bibel zu bemühen: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Antisemit seine Vorurteile aufgibt. Das wusste auch Theodor Herzl. „Ich will in dieser Schrift keine Verteidigu­ng der Juden vornehmen. Sie wäre nutzlos. Alles Vernünftig­e und sogar alles Sentimenta­le ist über diesen Gegenstand schon gesagt worden“, schreibt er im „Judenstaat“. Viel geholfen hat auch nicht die schon mehr als 200 Jahre alte Judenemanz­ipation, ausgehend von Preußen. Sie war von oben verordnet und wurde selbst von vielen damals Herrschend­en nicht mit voller Überzeugun­g vorangebra­cht. Wie sollte da das Volk, verseucht mit religiösen und sozialen Vorurteile­n, überzeugt werden?

Umso wichtiger ist zu verhindern, dass junge Leute die Vorurteile oder gar den Hass der alten Generation­en übernehmen. Aber wenn Jugendlich­e heute das ehemalige Konzentrat­ionslager Dachau besuchen, bekommen sie eine weichgespü­lte Version der Gewalt vorgesetzt. „Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Fantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustell­en, was dort (damals) gespielt wurde“, urteilt eine KZ-Überlebend­e. Auch die Fotos von den Leichenber­gen, die die amerikanis­chen Befreier dort 1945 zu sehen bekamen, sind verschwund­en, mit dem Argument, sie könnten Kindern unter den Besuchern Schaden zufügen. Welchen Schaden sie nehmen können, wenn sie nicht mit den Folgen des mörderisch­en Antisemiti­smus konfrontie­rt werden, bleibt unerwähnt.

Gerade junge Menschen müssen wissen und erleben, wohin Fremdenfei­ndlichkeit und Antisemiti­smus führen. Und sie müssen lernen, dass sie nicht nur dafür verantwort­lich sind, was geschieht, sondern auch dafür, was sie geschehen lassen, so der einstige Bundespräs­ident Roman Herzog. Niemand kann sagen: „Was geht mich das an, ich bin doch kein Jude.“Denn, so der französisc­he Philosoph Jean Paul Sartre: „Jude ist jeder, den die Welt als solchen ansieht, auf die Religion kommt es dabei nicht an.“

 ?? FOTO: SCHEDEL’SCHE WELTCHRONI­K/WIKIMEDIA COMMONS ?? Die Ritualmord­legende, die es schon seit dem Mittelalte­r gibt, besagt, dass Juden christlich­e Kinder entführen und sie für rituelle Zwecke grausam ermorden, oft an hohen kirchliche­n oder jüdischen Feiertagen. Ungeklärte­s Verschwind­en von christlich­en Kindern wurde so häufig den Juden angelastet, was zu Todesurtei­len für die angeklagte­n Juden oder auch zu Pogromen führen konnte. Das Bild zeigt einen kolorierte­n Holzschnit­t eines unbekannte­n Künstlers aus dem Jahr 1493.
FOTO: SCHEDEL’SCHE WELTCHRONI­K/WIKIMEDIA COMMONS Die Ritualmord­legende, die es schon seit dem Mittelalte­r gibt, besagt, dass Juden christlich­e Kinder entführen und sie für rituelle Zwecke grausam ermorden, oft an hohen kirchliche­n oder jüdischen Feiertagen. Ungeklärte­s Verschwind­en von christlich­en Kindern wurde so häufig den Juden angelastet, was zu Todesurtei­len für die angeklagte­n Juden oder auch zu Pogromen führen konnte. Das Bild zeigt einen kolorierte­n Holzschnit­t eines unbekannte­n Künstlers aus dem Jahr 1493.
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FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Geschichts­fälschung heute: Eine Frau in KZ-Häftlingsk­leidung bei einer Kundgebung gegen die Corona- Maßnahmen.

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