Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Minister Spahn verteidigt Impfstopp
WHO für weitere Nutzung des Vakzins von Astra-Zeneca – EU plant „Grünes Zertifikat“
BRÜSSEL/GENF (dpa/AFP) - Der in Deutschland gestoppte CoronaImpfstoff von Astra-Zeneca erhält international Rückendeckung. Am Mittwoch plädierte die Weltgesundheitsorganisation WHO für die weitere Nutzung, da die Vorteile größer seien als die Risiken. Auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bekundete ihr Vertrauen in den Wirkstoff. Die entscheidende Bewertung für Europa will an diesem Donnerstag die EU-Arzneimittelbehörde EMA abgeben – einen Tag vor dem deutschen Impfgipfel am Freitag. In Brüssel stellte von der Leyen derweil das Konzept des „Grünen Zertifikats“vor. Mit diesem Impfnachweis sollen Europäer im Sommer wieder reisen können. Nach harter Kritik am Impfstoffmangel will sie zudem strikter darauf achten, dass die Hersteller vorrangig die EU beliefern. Impfstoffexporte in Länder wie Großbritannien sollen notfalls schärfer beschränkt werden.
Deutschland und andere EU-Länder hatten die Nutzung des Astra-Zeneca-Impfstoffs vorerst gestoppt. Hintergrund sind Meldungen von Blutgerinnseln in Hirnvenen in zeitlichem Zusammenhang zu Impfungen. Sechs von zehn Deutschen halten den Astra-Zeneca-Impfstopp laut einer YouGov-Umfrage für richtig. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte die Vorsichtsmaßnahme. „Wir passen auf, wir nehmen gemeldete Vorfälle ernst, und wenn es was zu überprüfen gibt, dann überprüfen wir es“, sagte er am Mittwoch. Er rechne für Donnerstag mit einer Einschätzung der EMA, wie es weitergehen könne. Für den Fall, dass Astra-Zeneca nicht mehr zum Einsatz kommen sollte – was aber nicht sehr wahrscheinlich sei –, würden für ausstehende Zweitimpfungen Lösungen zu finden sein. Die Bundesregierung hält weiter an ihrem Versprechen fest, dass alle Erwachsenen in Deutschland bis zum Ende des Sommers das Angebot einer Corona-Impfung erhalten sollen.
Astra-Zeneca spielt bisher eine wichtige Rolle für die Impfstrategie in der EU. Der britisch-schwedische Hersteller hat zwar Lieferschwierigkeiten, dennoch sind 70 Millionen Dosen für das zweite Quartal avisiert. Weil das Vakzin nicht stark gekühlt werden muss, kann es auch gut von Hausärzten gespritzt werden. Wie es nach der Bewertung durch die EMA weitergeht, wollen Bund und Länder voraussichtlich am Freitag beim Impfgipfel beraten. Die FDP ist dafür, Astra-Zeneca umgehend weiter an Freiwillige zu vergeben.
In Deutschland hatte Spahn unter anderem Kritik von Grünen und FDP eingesteckt. Das Aussetzen der Corona-Impfungen mit Astra-Zeneca habe das Vertrauen in die Impfpolitik untergraben, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. FDP-Vize Wolfgang Kubicki forderte die Entlassung von Gesundheitsminister Spahn. Den Impfstopp mit Astra-Zeneca hatte das für die Impfstoff-Sicherheit zuständige PaulEhrlich-Institut (PEI) empfohlen.
BERLIN - Jürgen Windeler leitet das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Das IQWIG gilt als wichtigste Institution der medizinischen Qualitätssicherung. Es prüft Therapien und Medikamente auf ihre Wirkung. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe noch kein Politiker nach seiner Einschätzung gefragt, sagt Windeler im Gespräch mit Igor Steinle. Dabei fehlten weiter wichtige Erkenntnisse im Kampf gegen das Virus.
Herr Windeler, welche Wissenslücken haben wir?
Es gibt immer noch große Lücken in der Frage der Ansteckungswege, welche Berufsgruppen besonders betroffen, welche Situationen besonders gefährlich sind. Es gibt zwar Modellrechnungen, aber wenig Empirie, meist aus dem Ausland. Nach wie vor gibt es Wissenslücken bei der Wirksamkeit der Therapien und auch bei der Wirksamkeit der allgemeinen Maßnahmen. Wir wissen nach einem Jahr einfach sehr viel nicht, nicht einmal, wie weit wir sinnvoll Abstand halten sollten.
Welche Daten bräuchten wir?
Sehr früh im vergangenen Jahr hat es den Vorschlag gegeben, eine große Kohortenstudie mit infizierten Menschen durchzuführen. Hätte man das getan, wüsste man heute etwas über Immunitätsverläufe, darüber, wer wen ansteckt und man hätte sehr viel früher eine genauere Sterblichkeitsrate gekannt. Ebenfalls hätte man die Berufe und das Umfeld der Erkrankten erfassen können. Im Gesundheitsund Erziehungsbereich hat man dazu einige Daten, bei Handwerkern, Kassiererinnen oder Busfahrerinnen hingegen weiß man nicht, ob sie einem besonderen Risiko ausgesetzt sind.
Was wäre, wenn wir das wüssten?
Nehmen wir den Lockdown: Wüsste man, wie groß die Ansteckungsgefahr im Einzelhandel, in der Kirche oder im Fußballstadion ist, könnte man im besten Fall differenziertere Entscheidungen treffen. Natürlich muss auf dieser Basis aber auch eine politische Abwägung erfolgen. So können wir etwa davon ausgehen, dass das Risiko, sich beim Golfspielen anzustecken, bei nahezu null liegt. Trotzdem wird wohl kein Politiker Fußballstadien, Tennisplätze und Kindergärten schließen, Golfplätze aber offen lassen.
Zahlen der Uni Oxford zeigen, dass Schweden, wo es keinen harten Lockdown gab, in Sachen Übersterblichkeit nicht schlecht dasteht.
Auch wenn man den Eindruck hat, dass Schweden nicht mehr der Buhmann Europas ist, halte ich es für zu früh, Bilanz zu ziehen. Es kommt auch immer darauf an, wie solche Berechnungen angestellt werden. Aber klar ist, dass die Belastungen der einzelnen Länder in Sachen Inzidenzen (Sieben-Tage-Wert der neuen Corona-Infektionen auf 100 000 Einwohner), Sterblichkeit und der Belastung des Gesundheitssystems oft nicht mit den beschlossenen Maßnahmen zusammenpassen. Manche fahren einen harten Lockdown und kommen dabei gut weg, andere nicht, da gibt es viele Kombinationen. Man kann aber auf jeden Fall nicht sagen, dass diejenigen, die das Leben am schärfsten heruntergefahren haben, am besten durch die Pandemie kommen.
Das Robert-Koch-Institut warnt, dass die Inzidenz zu Ostern höher als an Weihnachten sein könnte. Intensivmediziner fordern, Öffnungen zurückzunehmen. Was sagen Sie?
Auf diese Frage kann ich nicht neutral antworten. Auch wir Wissenschaftler sind geprägt von unserer individuellen Mentalität und unseren allgemeinen Einstellungen zum Leben und zu Risiken. Ich persönlich habe wenig Verständnis dafür, dass jungen Menschen, und ich schließe hier Studierende ein, nicht endlich wieder die Chancen auf Bildung eröffnet werden, die sie dringend benötigen. Ich kann zwar versuchen, die Sorgen der Verantwortlichen nachzuvollziehen, aber meine Neikündigungen gung, Öffnungen zurückzunehmen, ist sehr begrenzt.
Sie fürchten hohe Inzidenzen nicht?
Ich verstehe nicht, wie man davon überrascht sein kann, dass die Infektionszahlen steigen, wenn man Öffnungen betreibt. Das ist bei einem grassierenden Virus quasi ein Naturgesetz. Die Frage ist doch vielmehr, wie viel den Menschen Bildung, Kultur oder ein „normales“Leben wert sind. Da erscheint es mir angemessener, darauf hinzuweisen, dass die Pandemie nicht vorbei ist und man sich nach den Regeln, die alle kennen und fast alle befolgen, verantwortungsvoll verhalten möge, anstatt nun wieder in Warnungen oder An
radikaler Maßnahmen zu verfallen. Ich würde mir wünschen, dass diese Form der Kommunikation endlich aufhört. Es sind doch alle müde davon geworden.
Stützt sich die Bundesregierung also zu sehr auf die Inzidenzen?
Es ist im Grunde allen klar, dass diese Zahl aus verschiedenen Gründen hochproblematisch ist. Wenn wir jetzt überall Schnelltests anbieten, werden die Infektionszahlen hochgehen, das geht gar nicht anders. Ich verstehe nicht, warum man das nicht häufiger zum Ausdruck bringt: Die Inzidenz hängt auch von der Testhäufigkeit ab. Außerdem sagen Inzidenzen nichts über den Krankheitsverlauf und die Belastung des Gesundheitssystems aus. Zumal die Neuinfektionen sich momentan besonders in jungen Altersgruppen abspielen, bei denen das Risiko schwerer Verläufe geringer ist. Zudem sind fast zehn Prozent der Menschen geimpft, darunter vor allem die Hochrisikogruppen. Auch deswegen ist die Aussagekraft der Inzidenzzahl inzwischen eine andere. Ich verstehe die Besorgnis, aber ich frage mich trotzdem, warum man neben der Inzidenz nicht viel stärker auch die Todesrate oder die Auslastung der Intensivstationen kommuniziert. Viel mehr zu testen und dann gleichzeitig davor zu warnen, dass die Infektionszahlen steigen, das macht einfach keinen Sinn.
Sie sprechen die Kommunikation an. Hat sich die Debatte seit Beginn der Pandemie verbessert?
Mein Eindruck ist eher, dass sie kaum noch stattfindet. Von vielen Experten, die in den vergangenen Monaten Vorschläge zu den CoronaMaßnahmen erarbeitet haben, höre ich schon länger nichts mehr. Da ist eine gewisse Resignation eingetreten. Man hat gemerkt, dass die Debatten zu einem großen Teil nicht fruchtbar sind. Jetzt halten sich viele zurück. Ich bedauere das. Zweifel äußern, Fragen stellen, neue Hypothesen aufstellen und gegebenenfalls verwerfen – das ist es, was Wissenschaft ausmacht, und was letztlich zu Erkenntnisfortschritten führt, auch und gerade in einer Krise wie der Pandemie.