Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Infektionszahlen bei Kindern und Jugendlichen steigen
Experten vermuten hinter dieser Entwicklung die britische Corona-Mutante
ULM - Schulen und Kitas haben in Baden-Württemberg und Bayern seit Anfang der Woche wieder geöffnet. Doch eines dürfte die Freude darüber bei vielen Kindern, Eltern, Lehrkräften und Erziehern trüben: Derzeit breitet sich in ganz Deutschland die britische Corona-Variante B.1.1.7 aus. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) macht die Mutation bereits die Hälfte aller Neuinfektionen hierzulande aus.
Das macht Experten wie dem Chef des RKIs, Lothar Wieler, Sorgen. Denn gleichzeitig steige die Inzidenz bei Menschen unter 15 Jahren seit Mitte Februar „sehr rasant“an. Auch gebe es mehr Ausbrüche in Kitas als noch vor Weihnachten. Wieler vermutet, dass die britische Variante dabei eine Rolle spielt: Sie gilt im Vergleich mit dem ursprünglichen Wildtypus als gefährlicher.
Was macht die Variante so bedrohlich?
B.1.1.7 ist nach Meinung vieler Experten ansteckender. Laut derzeitigen Erkenntnissen liegt das an Veränderungen des Spike-Proteins, mit dem das Virus im Fall einer Infektion in die Körperzellen eindringt.
Die Mutationen führen dazu, dass sich das Virus fester an einen bestimmten Rezeptor der Zellen binden kann. So verdrängt B.1.1.7 andere Virusvarianten wie etwa den SarsCoV-2-Wildtyp.
„Dadurch wird die Mutante effektiver zwischen Menschen übertragen“, erklärt der Virologe Thomas Mertens von der Universität Ulm. Sie verbreitet sich also extrem schnell, auch von Land zu Land. Einem Bericht der britischen Gesundheitsbehörde zufolge wurde die Mutation erstmals im September 2020 bei Patienten aus Großbritannien beschrieben. Von dort habe sie sich rasch nach Dänemark und weiter nach Deutschland verbreitet, wo sie seit Mitte März dominant ist. So enthalten Berichten des RKI zufolge mittlerweile 55 Prozent der untersuchten Proben die britische Variante – ein Anstieg von ganzen 33 Prozent gegenüber dem Monatsanfang.
Laut Mertens ist das vor allem deshalb besorgniserregend, weil die Mutation mit eher schwereren Krankheitsverläufen verbunden zu sein scheint. Eine Mitte März veröffentlichte Studie der Universität von Exeter kam zu dem Schluss, dass B.1.1.7 sogar tödlicher ist als der Wildtyp. In 4,1 von tausend Fällen führe eine Infektion mit B.1.1.7 zum
Tod, beim Wildtyp sind es den Daten zufolge 2,5 von tausend Fällen.
Wieso sind offenbar vor allem Minderjährige in Gefahr?
Dazu gibt es mehrere mögliche Gründe. Generell lässt sich die Gefahr einer Übertragung von B.1.1.7 durch die bekannten Schutzmaßnahmen wie Abstandhalten, Lüften und Hygieneregeln verringern. Mertens zufolge sind diese Regeln aber unter Kindern und Jugendlichen schwerer durchzusetzen. Zumal in Baden-Württemberg etwa Grundschüler von der Maskenpflicht befreit sind.
Was Experten ebenfalls beunruhigt: Anders als Erwachsene zeigen viele mit Sars-CoV-2 infizierte Kinder keine Symptome. Und tun sie das doch, sind diese meist unspezifisch und werden leicht falsch gedeutet, wodurch eine Infektion zum Teil gar nicht oder erst spät bemerkt wird.
So leiden mit dem Virus infizierte Kinder vor allem an Fieber, Husten und Halsschmerzen, mitunter auch an Bauchschmerzen. Bei Jugendlichen ähnelt das Krankheitsbild eher dem von Erwachsenen. Es kann zu Fieber, Gliederschmerzen und oft zu einer Geruchs- und Geschmacksstörung kommen.
Bei manchen an Covid-19 erkrankten Kindern kann eine verzögerte Fehlreaktion des Immunsystems sogar zu einem schweren Krankheitsverlauf führen. Zwei bis vier Wochen nach der Infektion werden die Betroffenen dann so krank, dass sie teilweise auf der Intensivstation versorgt werden müssen.
Das Krankheitsbild ähnelt dabei dem sogenannten Kawasaki-Syndrom, einer seltenen Erkrankung bei Kleinkindern: Die Patienten haben hohes Fieber, Schleimhautentzündungen, Lymphknotenschwellung, Hautausschlag und gerötete Hände. Bei Covid-19 treten diese Phänomene zum Teil auch bei deutlich älteren Kindern auf.
Auch das Phänomen des sogenannten Long Covid, also erhebliche gesundheitliche Einschränkungen trotz erfolgreich überstandener Covid-Erkrankung, rücken bei Wissenschaftlern mit Blick auf jüngere Menschen immer mehr in den Fokus.
Wie sollten Kitas und Schulen jetzt am besten reagieren?
Grundsätzlich ist noch unklar, inwieweit Kitas und Schulen zum Infektionsgeschehen beitragen. In einigen Regionen wie beispielsweise Münster in Nordrhein-Westfalen sei ein Infektionsanstieg bereits vor den Schulöffnungen festgestellt worden, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“.
Trotzdem mahnen die Experten zu Vorsicht. „Wenn man Übertragungen in der Schule vermeiden will, muss man die Maßnahmen strenger einhalten“, betont Mertens. Also: streng darauf achten, dass alle Kinder und Jugendlichen Masken tragen, Abstand halten und sich regelmäßig die Hände waschen und desinfizieren. Lehrer und Erzieher sollten dies kontrollieren und für eine gute Durchlüftung der Räume sorgen.
Zudem wird immer wieder darauf verwiesen, dass an Schulen häufiger Corona-Schnelltests durchgeführt werden müssten. Das niedrigschwellige Testen gilt als wichtiger Faktor für die Öffnung der Schulen.
Andere Experten pochen auf eine Impfung. Anders als bei anderen Mutationen des Virus wirken bei B 1.1.7 die bisher zugelassenen Vakzine. Doch bislang ist nur ein Impfstoff – der von Biontech/Pfizer – ab 16 Jahren zugelassen. Für Jüngere gibt es noch keinen Schutz. Erste Studien an Kindern unter zwölf Jahren haben nun aber begonnen.