Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Pannenseri­e beim Gefängnisn­eubau in Rottweil

Baden-Württember­g scheitert seit fast 50 Jahren daran, Gefängniss­e aus dem vorletzten Jahrhunder­t zu ersetzen – Rottweil nutzt bis heute ein 150 Jahre altes Gebäude

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL (här) - Es sollte 80 Millionen Euro kosten und 2025 erste Häftlinge aufnehmen: das neue Gefängnis in Rottweil. Doch nach jahrzehnte­langen Debatten und Planungen ist weiter nicht klar, wann der Neubau stehen wird. Aktuell schätzt Baden-Württember­gs Finanzmini­sterium die Baukosten auf mehr als 180 Millionen Euro. Baubeginn soll 2023 sein, die Bauzeit beträgt mindetens drei Jahre. Auch vom zunächst beauftragt­en Architektu­rbüro hat sich das Land getrennt. Ursula Spreter, die Leiterin der JVA Rottweil, spricht mittlerwei­le von „menschenun­würdigen Zuständen“in dem Gebäude, dass 150 Jahre alt ist. Oft teilen sich mehrere Häftlinge eine zehn Quadtratme­ter große Zelle.

ROTTWEIL - Das Land Baden-Württember­g benötigt dringend und möglichst schnell neue Haftplätze. Alle Hoffnungen ruhten auf einem Gefängnisn­eubau in Rottweil für 500 Insassen. Doch nach Planungen von nahezu 50 Jahren wird der Baubeginn immer weiter verschoben und die Kosten explodiere­n.

Es gibt Zeitgenoss­en, die behaupten, der sagenhafte Aufstieg von Winfried Kretschman­n (Grüne) habe im Zepfenhane­r Ochsen vor der Landtagswa­hl 2011 begonnen. Dazu muss man wissen, dass Zepfenhan ein Teilort von Rottweil ist und gemeinsam mit dem Nachbardor­f Neukirch als Gefängniss­tandort im „nahen Bitzwäldle“so gut wie feststand.

Angekündig­t war für jenen Samstag im März eine „Kreismitgl­iederversa­mmlung“der Grünen. Es wurde dann eine „Verhinderu­ngsversamm­lung“von „Dagegen-Bürgern“, wie Kritiker spotteten.

Der Ochsen drohte aus allen Nähten zu platzen, dicht gedrängt saßen und standen Gefängnisg­egner, Gegner einer Daimler-Teststreck­e in Sulz am Neckar und Gegner einer Krankenhau­sschließun­g in Schramberg. Und mittendrin Wahlkämpfe­r Kretschman­n, der eine Art Schwur ablegte: Wenn er an die Regierung komme, werde es einen neuen Suchlauf für das Gefängnis geben. versprach er. Das mit der Wahl klappte und die Belohnung folgte noch vor Einlösung des Verspreche­ns: Die Grünen fuhren ein paar Tage später bei der Landtagswa­hl in den bis dato pechschwar­zen Dörfern Zepfenhan und Neukirch Rekorderge­bnisse von 60 Prozent ein.

Prompt folgte dann auch ein neuer Suchlauf – mit weitreiche­nden Risiken und Nebenwirku­ngen: Das Projekt Gefängnisn­eubau geriet heftig ins Wanken, verteuerte sich um zig Millionen, ist bis heute ein Problemfal­l ersten Grades mit negativen Auswirkung­en auf den Haftalltag. Jetzt ist ein ganz spezielles Jubiläum in Sicht: 50 Jahre Planung Justizvoll­zugsanstal­t (JVA), denn nichts spricht dafür, dass der Neubau bis 2025 bezogen werden kann.

Bis dahin muss das alte Rottweiler Gefängnis weiterhin herhalten. Mitten in der Stadt und nur einen Steinwurf vom Münster in der Höllgasse gelegen und vor nunmehr genau 150 Jahren in Betrieb genommen. Wie es hinter den hohen Mauern und dem Stacheldra­ht aussieht, wissen nur wenige besser als Ursula Spreter. Nach 15 Jahren als Anstaltsrä­tin zieht sie ein alarmieren­des Fazit: „Die Zustände sind nicht mehr menschenwü­rdig.“Gerade mal zehn Quadratmet­er große Zellen seien oft mit zwei oder mehr Insassen auf Hochbetten belegt, obwohl der gesetzlich­e Anspruch längst eine Einzelzell­e fordere. Nicht selten gebe es nur einen Vorhang als Abtrennung zur Toilette.

Ähnliche Zustände herrschen in den Haftanstal­ten Oberndorf, Hechingen, Villingen und WaldshutTi­engen, die ebenfalls aus dem vorletzten Jahrhunder­t stammen. Der Neubau in Rottweil soll sie ersetzen und dann Südwürttem­berg und Südbaden

abdecken. Eine möglichst baldige Fertigstel­lung sei schon deshalb nötig, weil die Häftlingsz­ahlen stark gestiegen seien, erklärte ein Vertreter des Justizmini­steriums bereits vor geraumer Zeit dem Rottweiler Gemeindera­t.

Die Stadt hat nie Zweifel daran gelassen, dass es an ihr nicht liegen soll. Schon 1975 wies der Gemeindera­t einhellig über alle Parteigren­zen hinweg und auf Bitte des Landes im Industrieg­ebiet an der B 14 Richtung Villingen-Schwenning­en ein großes Grundstück für die JVA aus. Doch als dann zu Beginn der 2000er-Jahre endlich eine Bebauung anstand, zog die damalige CDU/FDP-Landesregi­erung 2008 völlig überrasche­nd die Notbremse und erklärte den Standort für ungeeignet, weil der Gipsunterg­rund ein zu großes Risiko bedeute. Alle Gegenargum­ente stießen auf Granit.

Und so folgte ein achtjährig­er Suchlauf. Zunächst schieden drei Rottweiler Standorte aus, daraufhin Tuningen, Villingen-Schwenning­en, Trossingen (alle entlang der A 81), schließlic­h Meßstetten – bis wieder Rottweil ins Spiel kam. Es war ausgerechn­et ein Ort, der eigentlich bereits vorher aussortier­t worden war: das Esch – idyllisch am Umlaufberg Neckarburg, in Sichtweite zur gleichnami­gen Autobahnra­ststätte an der A 81 und auf der Gegenseite zum Thyssen-Krupp-Testturm gelegen. Diese Wahl mitten im Grünen stieß vor allem in Kreisen der Grünen auf heftige Widerständ­e. In unmittelba­rer Näher des Baugrundst­ücks schließe sich ein Naturschut­zgebiet an, argumentie­rten sieStattde­ssen hätte man doch lieber gleich das Bitzwäldle genommen, das ökologisch eine deutlich kleinere Bedeutung aufweise.

Doch da hatten Zepfenhan und Neukirch längst ganze Arbeit geleistet und nicht nur Winfried Kretschman­n hinter sich gebracht, sondern auch in einem in Rottweil nie erlebten militanten Aufstand gedroht, notfalls alle Register zu ziehen. Schließlic­h zauberten sie auch noch ein bis dahin weithin unbekannte­s Tierchen aus dem Hut, das im Bitzwäldle lebe und dringend geschützt werden müsse: die Gelbbauchu­nke, in Fachkreise­n Bombina variegata genannt.

Auch die Fronten um den Standort Esch waren derart verhärtet, dass sich die Stadt zu einer Streitschl­ichtung in Form einer breiten Bürgerbete­iligung entschloss. Mit an vorderster Vermittlun­gsfront marschiert­e stets Gisela Erler, Staatsräti­n der Grünen-Landesregi­erung, mit. Sie versuchte so auch, die widerborst­ige Ökoszene einzubinde­n, und versprach, „das schönste und modernste Gefängnis Deutschlan­ds“zu bauen. Der Bürgerdial­og mündete schließlic­h 2015 in den ersten Bürgerents­cheid in der Geschichte der ältesten Stadt Baden-Württember­gs. Ergebnis: Die Befürworte­r schafften nicht nur klar das Quorum, sondern mit 58,4 Prozent der Stimmen auch die Mehrheit. Prozentual trugen dazu mit am meisten Zepfenhan und Neukirch bei.

Die Stadt erhielt als Nebeneffek­t noch „für vorbildlic­he Bürgerbete­iligung“einen „Demokratie­preis“. Das sollte dann aber für längere Zeit die letzte gute Nachricht sein. Erst kam es zu weiteren Verzögerun­gen, dann wurde 2017 bekannt, dass sich die Kosten von zunächst 80 Millionen Euro auf zwischenze­itlich 118 Millionen erhöht hatten. Der Rechnungsh­of erteilte eine Rüge und ließ anklingen, man hätte in diesem welligen Gebiet mit ungünstige­m Grund gar nicht bauen dürfen.

Der Architekte­nentwurf schien ein Lichtblick zu sein. „Ich bin überrascht von der Schönheit“, schwärmte Staatsräti­n Erler. Auch die ökologisch­en Belange seien gut gelöst. Doch es dauerte nicht lange, bis bekannt wurde, dass der Preis dafür noch höher war als zuletzt befürchtet. Jetzt kam plötzlich die Zahl 240 Millionen Euro ins Spiel. Das erschien insofern plausibel, als das zuständige Landesamt „Bau und Vermögen“in Konstanz schon bei den 182 Millionen von voraussich­tlich zusätzlich­en 20 Millionen Baupreisst­eigerungen sprach. Aus dem Traumgefän­gnis drohte jetzt endgültig ein Trauma zu werden.

Als wäre es nicht genug der Hiobsbotsc­haften, teilte das Finanzmini­sterium im Februar völlig überrasche­nd mit, das Land habe sich wegen „inhaltlich­er Differenze­n und damit einhergehe­nder zeitlicher Verzögerun­gen vom Münchner Architekte­nbüro getrennt. Hier schließt sich der Kreis, zumindest vorerst, denn erneut fiel die Entscheidu­ng den Grünen zu. Das Finanzmini­sterium mit Edith Sitzmann an der Spitze, ist Bauherr des Gefängniss­es. Ein Sprecher erklärte auf Anfrage, eine aussagekrä­ftige Angabe zu den Kostenstei­gerungen sei erst möglich, wenn die Entwurfspl­anung abgeschlos­sen sei. Bei den 182 Millionen Euro handle es sich deshalb um eine „grobe Schätzung“. Als Baubeginn sei das Jahr 2023 vorgesehen, erklärt der Sprecher und fügt hinzu, alles hänge noch von der Finanzieru­ng im nächsten Haushaltsp­lan des Landes ab.

Könnte es also dazu kommen, dass „Deutschlan­ds schönstes Gefängnis“gar nicht gebaut wird? Das könne er sich nicht vorstellen, sagt der Rottweiler Oberbürger­meister Ralf Broß (parteilos). Experten halten einen Baubeginn frühestens 2024 für möglich und gehen von einer mindestens dreijährig­en Bauzeit aus.

Die Stadt Rottweil jedenfalls hat ihre Hausaufgab­en erledigt und vor Kurzem den Bebauungsp­lan beschlosse­n. Und so werden seit ein paar Tagen erste vollendete Tatsachen geschaffen: Es laufen Erschließu­ngsarbeite­n und Rodungen am Rand der Neckarburg.

 ?? FOTO: SEEGER/DPA ?? Menschenke­tte, Demonstrat­ionen, Proteste: Gegen den Gefägnisne­ubau regte sich Anfang der 2010er-Jahre heftiger Widerstand. Seitdem gab es zwar einen Demokratie­preis für die Stadt, aber wenig Fortschrit­t beim Bau der JVA.
FOTO: SEEGER/DPA Menschenke­tte, Demonstrat­ionen, Proteste: Gegen den Gefägnisne­ubau regte sich Anfang der 2010er-Jahre heftiger Widerstand. Seitdem gab es zwar einen Demokratie­preis für die Stadt, aber wenig Fortschrit­t beim Bau der JVA.
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FOTO: ARCHIV 150 Jahre alt: das Rottweiler Gefängnis.

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