Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Länderchefs lassen Merkel auflaufen
Viele Ministerpräsidenten weisen Kritik der Kanzlerin zurück – Unterstützung von Söder
BERLIN (dpa) - Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat es klar und deutlich gesagt: Die Länder sollen ihre Lockdown-Versprechen halten und konsequenter die Notbremse ziehen. Doch die kritisierten Ministerpräsidenten sehen erst einmal keinen Grund zum Handeln und verweigern Planänderungen. „Jeder will, dass die Infektionszahlen runtergehen, und jeder hat für sein Land entsprechende Maßnahmen gemacht“, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet am Montag in Berlin. Der CDU-Chef räumte jedoch ein, diese Maßnahmen seien „sehr unterschiedlich“. Sein Amtskollege im Saarland, Tobias Hans (CDU), kündigte an, an einem Modellprojekt für Lockerungen durch massenhafte Tests festzuhalten.
Auch der Chef der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD), wies Merkels Kritik zurück. „Ich glaube nicht, dass es klug ist, aus dem Kanzleramt heraus jetzt ein LänderBashing zu betreiben, denn wir haben alle gemeinsam eine große Aufgabe zu bewältigen und haben auch schon viel gemeinsam erreicht“, sagte er. Merkel hatte Berlins Konzept zum Einkaufen unter Vorlage eines negativen Corona-Tests und schärferer Maskenpflicht konkret kritisiert.
Andere Länder deuteten an, den härteren Kurs von Merkel mitgehen zu wollen. So sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in der ARD, er könne sich mehr Kompetenzen in Bundeshand vorstellen, die die Länder zu klaren Regeln zwängen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) forderte den Bund sogar zum Handeln auf. „Man kann es im Infektionsschutzgesetz festlegen – ist mir auch recht –, Hauptsache, es ist ein einheitlicher Rahmen“, sagte er. Es gehe darum, endlich etwas zu tun statt zu reden.
Merkel hatte am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Anne Will“starken Druck auf die Länder ausgeübt, um diese zur Umsetzung der Notbremse und schärferer Maßnahmen gegen die dritte Infektionswelle zu bewegen. Modellprojekten mit Öffnungen erteilte sie eine klare Absage – und deutete an, notfalls könne der Bund tätig werden. Eine Möglichkeit sind laut Merkel präzisere Vorgaben im Infektionsschutzgesetz. Diese müssten Bundestag und Bundesrat beschließen.
BERLIN - Scharfe Kritik an Lockerungen und die Drohung, dass der Bund mehr durchgreifen könnte – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in der ARD-Sendung „Anne Will“ihren Unmut über nachlassende Anstrengungen zur Pandemie-Bekämpfung geäußert: Sie sei „am Nachdenken“darüber, welche Zusatzmaßnahmen nötig seien. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Warum erhöht die Kanzlerin den Druck auf die Bundesländer?
Merkel bemängelte, dass manche Bundesländer die Notbremse ignorieren. Diese sieht vor, dass ab einem Inzidenzwert von 100 Lockerungen wieder rückgängig gemacht werden. Das Nichtziehen der Notbremse etwa in Nordrhein-Westfalen und Berlin sei ein Verstoß gegen Beschlüsse, monierte die Kanzlerin. Ebenso wenig halte sie davon, dass das Saarland seine Außengastronomie öffne. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) scherte am Wochenende aus und lockerte die eigentlich vorgesehenen Kontaktsperren für die Corona-Hotspots mit mehr als 100 Fälle auf 100 000 Einwohner. NRWMinisterpräsident Armin Laschet, zugleich CDU-Chef, wollte die Kritik nicht auf sich sitzen lassen. „Nordrhein-Westfalen hat die Notbremse flächendeckend verpflichtend für alle Landkreise umgesetzt“, sagte er. Darüber hinaus sei eine Terminvereinbarung in Geschäften mit einem Corona-Test möglich.
Wie will die Kanzlerin die dritte Infektionswelle brechen?
Durch eine Kombination aus Ausgangsbeschränkungen in Regionen mit besonders hohen Infiziertenzahlen, verpflichtenden Tests, mehr Homeoffice und weiteren Kontaktbeschränkungen. Auch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) sprach sich für nächtliche Ausgangsbeschränkungen aus. „Ich hätte gar nichts dagegen zu sagen: Ab 20 Uhr ist wirklich Ruhe“, sagte er der „Bild“-Zeitung.
Welche Optionen hat die Kanzlerin, um solche Maßnahmen durchzusetzen?
Merkel nannte drei Möglichkeiten:
Die erste Variante wäre die Einberufung einer weiteren Ministerpräsidentenkonferenz – wobei ihr Sprecher Steffen Seibert am Montag mitteilte, dass vor Ostern ein solches Treffen nicht geplant sei. Eine Alternative wäre der Weg über ein Bundesgesetz, das im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig wäre. Möglich wäre auch eine Änderung der im November 2020 beschlossenen Neufassung des Infektionsschutzgesetzes. Der Bundesrat müsste dem mit Mehrheit zustimmen. Merkel kündigte an, den Bundesrat „einbeziehen“zu wollen. Sprich: Einfach anordnen kann Merkel wenig im Bereich der Pandemiebekämpfung. Sie braucht mindestens die Zustimmung der Bundestagsmehrheit.
Müssen die Bundesländer Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung immer zustimmen?
Laut dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers ist dem nicht so. „Der Bund kann die Bekämpfung der Pandemie gesetzgeberisch abschließend regeln“, sagte der Professor für Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität Spiegel Online. Auch ein vollständiger Lockdown lasse sich per Bundesgesetz regeln. Die Grundlage dafür sei Artikel 74, Absatz 1, Nummer 19 des Grundgesetzes. Der Bund besitze die Gesetzgebungskompetenz für alle „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“, heiße es dort. Der Bund habe die Möglichkeit, Maßnahmen etwa über ein eigenes Gesetz zu regeln. „Alternativ dazu könnte man auch im Infektionsschutzgesetz eine Rechtsgrundlage schaffen, die die Bundesregierung oder den Bundesgesundheitsminister dazu ermächtigt, den Lockdown per Rechtsverordnung bundeseinheitlich anzuordnen“, betonte Möllers. Probleme sehe er allenfalls bei Entscheidungen über Öffnungen und Schließungen von Schulen, da Bildungspolitik Ländersache sei. Auch der Münchner Staatsrechtler Christoph Degenhart sagt, dass Pandemie-Maßnahmen ohne die Länder in Form von Bundesgesetzen beschlossen werden könnten. Aber auch in solchen Fällen müsse die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten zustimmen, allein anordnen könne Merkel nicht.