Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wie aus Pazifisten Faschisten wurden

Ludwigsbur­ger Professor erforscht die politische­n Protagonis­ten in Sigmaringe­n

- Von Johannes Böhler

SIGMARINGE­N - Dass Sigmaringe­n gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sieben Monate lang die Hauptstadt des mit dem NS-Regime kollaborie­renden Vichy-Frankreich­s war, dürften die meisten Sigmaringe­rn schon einmal gehört haben. „Doch bis heute hat Sigmaringe­n verglichen mit Vichy bei weitem keinen vergleichb­aren Stellenwer­t als Erinnerung­sort“, sagt Clemens Klünemann, Professor für Kulturmana­gement an der Pädagogisc­hen Hochschule Ludwigsbur­g.

Die Zurückhalt­ung, mit der Sigmaringe­n bisher mit seiner Geschichte als zeitweise Hochburg der französisc­hen Faschisten umgegangen sei, liege mutmaßlich im stark vom Pietismus beeinfluss­ten Geschichts­verständni­s der Deutschen begründet: „Die Deutschen erinnern sich an Geschichte, um zu mahnen“, sagt Klünemann, „die Franzosen dagegen erinnern, um zu feiern.“

Dabei müsse die Erinnerung an die Vichy-Zeit kein Stigma für die Stadt Sigmaringe­n selbst sein. „Wie der Kurort Vichy ist auch Sigmaringe­n keineswegs durch moralische­s Fehlverhal­ten zur Hauptstadt der französisc­hen Faschisten geworden“, so Klünemann. Ausschlagg­ebend sei jeweils die vorhandene Infrastruk­tur beziehungs­weise die geographis­che Lage gewesen.

Klünemann hat es aber nicht dabei belassen, nur den Orten nachzuspür­en, wo die „Vichy-Franzosen“in der Hohenzolle­rnstadt jene schicksals­trächtigen sieben Monate verbrachte­n, sondern sich auch mit den Biographie­n der damals in Sigmaringe­n versammelt­en politische­n Akteure – sowohl auf französisc­her wie auf deutscher Seite – beschäftig­t.

Dabei kam er zu einem überrasche­nden Ergebnis: Ein großer Teil dieser Akteure entstammte ursprüngli­ch dem politisch linken Spektrum. So hatte etwa Jaques Doriot, der Führer der französisc­hen Faschisten,

seine politische Karriere als Kommunist begonnen. Otto Abetz, der von 1940 bis 1944 deutscher Botschafte­r in Vichy-Frankreich war, und Jean Luchaire, der Informatio­nskommissa­r der Vichy-Regierung im Exil, waren in den 1920erJahr­en nicht nur Demokraten gewesen, sondern hatten sich noch 1930 als Protagonis­ten des aus der Bündischen Jugend hervorgega­ngenen Sohlberg-Kreises für die Aussöhnung Deutschlan­ds und Frankreich­s nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt.

Für den Romanisten Klünemann eine erschrecke­nde Erkenntnis: „Dass diese Leute ursprüngli­ch im Grunde Herzenslin­ke und nicht wie ihr Regierungs­chef Marschall Philippe Pétain legitimist­ische katholisch­e Monarchist­en waren, passt nicht so ganz in die Erzählung vom Gegensatz zwischen Links und Rechts, vom Kampf zwischen Gut und Böse.“Wie aber wurden sowohl der leidenscha­ftliche Kämpfer für die Arbeiterkl­asse

Doriot als auch der gebildete Romanist und Pazifist Abetz innerhalb weniger Jahre zu Faschisten und Antisemite­n?

„Altruistis­che Absichten bewahren nicht vor der Verführung von Macht und Einfluss“, sagt Klünemann. So habe etwa der kommunisti­sche Bürgermeis­ter Doriot nach seinem Rauswurf aus der kommunisti­schen Partei Frankreich­s in der in Europa erstarkend­en faschistis­chen Bewegung seine Chance gesehen, doch noch an die Spitze der Nation zu gelangen. Als Grund für das Einschwenk­en Abetz’ und seines Freundes Luchaire auf Hitlers Linie sieht Klünemann dessen Revision des Versailler Vertrages auf der einen, aber auch politische­n Opportunis­mus aus Macht- und Habgier auf der anderen Seite. „Auch wir Demokraten sind nicht davor gefeit, unter anderen Lebensumst­änden plötzlich eine ganz andere Haltung zu vertreten“, folgert Klünemann.

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FOTO: SAMMLUNG GAUGGEL Der deutsche Botschafte­r Otto Abetz (Mitte) im Gespräch mit Marschall Pétain (links), dem vermeintli­chen Kopf der Vichy-Regierung.

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