Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wie aus Pazifisten Faschisten wurden
Ludwigsburger Professor erforscht die politischen Protagonisten in Sigmaringen
SIGMARINGEN - Dass Sigmaringen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sieben Monate lang die Hauptstadt des mit dem NS-Regime kollaborierenden Vichy-Frankreichs war, dürften die meisten Sigmaringern schon einmal gehört haben. „Doch bis heute hat Sigmaringen verglichen mit Vichy bei weitem keinen vergleichbaren Stellenwert als Erinnerungsort“, sagt Clemens Klünemann, Professor für Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Die Zurückhaltung, mit der Sigmaringen bisher mit seiner Geschichte als zeitweise Hochburg der französischen Faschisten umgegangen sei, liege mutmaßlich im stark vom Pietismus beeinflussten Geschichtsverständnis der Deutschen begründet: „Die Deutschen erinnern sich an Geschichte, um zu mahnen“, sagt Klünemann, „die Franzosen dagegen erinnern, um zu feiern.“
Dabei müsse die Erinnerung an die Vichy-Zeit kein Stigma für die Stadt Sigmaringen selbst sein. „Wie der Kurort Vichy ist auch Sigmaringen keineswegs durch moralisches Fehlverhalten zur Hauptstadt der französischen Faschisten geworden“, so Klünemann. Ausschlaggebend sei jeweils die vorhandene Infrastruktur beziehungsweise die geographische Lage gewesen.
Klünemann hat es aber nicht dabei belassen, nur den Orten nachzuspüren, wo die „Vichy-Franzosen“in der Hohenzollernstadt jene schicksalsträchtigen sieben Monate verbrachten, sondern sich auch mit den Biographien der damals in Sigmaringen versammelten politischen Akteure – sowohl auf französischer wie auf deutscher Seite – beschäftigt.
Dabei kam er zu einem überraschenden Ergebnis: Ein großer Teil dieser Akteure entstammte ursprünglich dem politisch linken Spektrum. So hatte etwa Jaques Doriot, der Führer der französischen Faschisten,
seine politische Karriere als Kommunist begonnen. Otto Abetz, der von 1940 bis 1944 deutscher Botschafter in Vichy-Frankreich war, und Jean Luchaire, der Informationskommissar der Vichy-Regierung im Exil, waren in den 1920erJahren nicht nur Demokraten gewesen, sondern hatten sich noch 1930 als Protagonisten des aus der Bündischen Jugend hervorgegangenen Sohlberg-Kreises für die Aussöhnung Deutschlands und Frankreichs nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt.
Für den Romanisten Klünemann eine erschreckende Erkenntnis: „Dass diese Leute ursprünglich im Grunde Herzenslinke und nicht wie ihr Regierungschef Marschall Philippe Pétain legitimistische katholische Monarchisten waren, passt nicht so ganz in die Erzählung vom Gegensatz zwischen Links und Rechts, vom Kampf zwischen Gut und Böse.“Wie aber wurden sowohl der leidenschaftliche Kämpfer für die Arbeiterklasse
Doriot als auch der gebildete Romanist und Pazifist Abetz innerhalb weniger Jahre zu Faschisten und Antisemiten?
„Altruistische Absichten bewahren nicht vor der Verführung von Macht und Einfluss“, sagt Klünemann. So habe etwa der kommunistische Bürgermeister Doriot nach seinem Rauswurf aus der kommunistischen Partei Frankreichs in der in Europa erstarkenden faschistischen Bewegung seine Chance gesehen, doch noch an die Spitze der Nation zu gelangen. Als Grund für das Einschwenken Abetz’ und seines Freundes Luchaire auf Hitlers Linie sieht Klünemann dessen Revision des Versailler Vertrages auf der einen, aber auch politischen Opportunismus aus Macht- und Habgier auf der anderen Seite. „Auch wir Demokraten sind nicht davor gefeit, unter anderen Lebensumständen plötzlich eine ganz andere Haltung zu vertreten“, folgert Klünemann.