Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Eine Familie wie ein Sechser im Lotto
Für Tim ist es normal, dass er drei Mütter hat – Team der Stiftung Liebenau begleitet ihn und seine Gastfamilie
BAD SAULGAU/MENGEN - Nicht alle Kinder können bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, weil diese den Herausforderungen nicht gewachsen sind oder aus anderen Gründen nicht dazu in der Lage sind, sich zuverlässig um sie zu kümmern. Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen brauchen ein stabiles soziales Umfeld, Unterstützung und Förderung. Im Kreis Sigmaringen helfen unter anderem die Ambulanten Dienste der Stiftung Liebenau für solche Kinder ein Zuhause in einer Gastfamilie zu finden. Ein Team von vier Mitarbeitenden, die ihr Büro in Mengen haben, begleitet aktuell 16 Kinder, Jugendliche und Erwachsene und ihre Pflegefamilien in ihrem Alltag.
Der neunjährige Tim leidet seit seiner Geburt an Neurofibromatose. Diese Krankheit ist dafür verantwortlich, dass er eine Beinprothese trägt, nur sehr schlecht sehen kann und in der Schule für Blinde und Sehbehinderte in Baindt auf dem Niveau für geistigen Förderbedarf lernt. Seit mehr als sechs Jahren ist er Teil der Familie Rännar. „Seine leibliche Mutter konnte aufgrund ihrer eigenen Behinderung nicht ausreichend für ihn sorgen und die Bereitschaftspflegefamilie, in der er zweieinhalb Jahre gelebt hat, konnte das nicht auf Dauer“, erklärt Edith Bochtler-Walla von den Ambulanten Diensten. So kam Tim aus dem Raum Stuttgart nach Bad Saulgau. „Ich habe drei Mamas und drei Papas“, erzählt er. Weil der Kontakt untereinander gehalten wird und das Verhältnis gut ist, sieht er alle regelmäßig. „Wir wollen ihm ja nichts vormachen und gehen deshalb ganz offen damit um“, sagt seine Pflegemutter Anette Rännar.
Dass Tim und seit fünf Jahren mit Sina ein weiteres Pflegekind bei ihr, ihrem Mann Gerald und den Töchtern Linnéa (14) und Matilda (11) in der Familie leben, ist laut Anette Rännar das Resultat einer spontanen Protestaktion. „Matilda ist mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen und ich war wirklich entsetzt von den Reaktionen in unserem Umfeld“, sagt sie. Die meisten hätten das für eine schlechte Nachricht gehalten und ihre Hoffnung geäußert, das sich die Diagnose nicht bewahrheiten möge. „Da war ich schon ziemlich auf Krawall gebürstet“, gibt sie zu. Als im Amtsblatt der Stadt dann etwa ein Jahr nach der Geburt von Matilda eine Pflegefamilie für einen behinderten Säugling gesucht wurde, sei ihr sofort klar gewesen: „Da rufe ich jetzt sofort an und wir zeigen allen erst recht, wie lebenswert das Leben solcher Kinder ist.“Ein zweites Kind mit Behinderung in der Familie, das habe sie sich sofort zugetraut. Als Ergotherapeutin kenne sie verschiedene Krankheitsbilder und habe auch den medizinischen Hintergrund, um Gespräche
„Da war ich schon ziemlich auf Krawall gebürstet“, sagt Pflegemutter Anette Rännar.
mit Ärzten zu führen. „Davor schrecken sicher einige potenzielle Gasteltern zurück, aber ich finde das sehr spannend“, sagt sie.
Für die Ambulanten Dienste ist eine Familie wie diese wie ein Sechser im Lotto. „Zeigt eine Familie oder ein Paar Interesse, ein Kind aufzunehmen, wird ein umfangreiches Kennenlern-, Auswahl- und Zuordnungsverfahren durchgeführt. Auf die Familien kommen Herausforderungen zu, die Belastbarkeit, Offenheit, Toleranz und Humor erfordern“, sagt Edith BochtlerWalla. „Nur wenn alles passt, schaffen es Familien in unseren Pool.“Eine passgenaue Konstellation mit Zukunftsperspektive zu finden, braucht manchmal mehrere Anläufe.
Der erste hat bei den Rännars nicht geklappt. Das grundsätzliche Interesse blieb aber bestehen, sodass die Familie kontaktiert wurde, als die Ambulanten Dienste eine Anfrage zur Vermittlung von Tim aus Stuttgart erhielt. Es folgte eine Kennenlernphase, gegenseitige Besuche und Ausflüge, bis Tim dann ein halbes Jahr später, im August 2014, bei den Rännars einzog. Seither ist Edith Bochtler-Walla regelmäßig bei der Familie zu Gast. Sie bespricht mit den Eltern anstehende Arzttermine und mögliche Probleme in der Schule oder untereinander. Sie unternimmt auch manchmal einen Ausflug mit Tim. „Es ist wichtig, dass alle einen Ansprechpartner haben, der außerhalb der Familie für sie da ist“, findet sie. Jeder soll mit seinen individuellen Bedürfnissen gehört werden können. Als Kontrolle empfindet Annette Rännar diese Besuche nicht im Gegenteil. „Ich bin für Tim nicht allein verantwortlich und kann mir immer Unterstützung und Beratung holen. Das gibt ein gutes Gefühl.“
„Kinder, die in Gastfamilien kommen, haben - ganz unabhängig von einer Behinderung - oft Schwierigkeiten, sich zu binden“, sagt Bochtler-Walla. Tim sei erst von seiner „Bauch-Mama“, wie er sie nennt, und dann von seiner ersten Pflege-Mama getrennt worden. „Es wird für diese Kinder immer schwieriger, sich auf Nähe einzulassen.“Das kann auch Anette Ränner bestätigen. „Ich habe erst im letzten Jahr das Gefühl, dass er die Nähe zu mir von sich aus sucht und das Bedürfnis hat, zu kuscheln“, sagt sie.
Gleichzeitig nehme sie auch an sich eine Distanz wahr, die sie zu ihren leiblichen Kindern nicht habe. Diesen Unterschied gebe es eben auf beiden Seiten und der müsse so akzeptiert werden.
Tim hat sich nicht nur zu einem kleinen Charmeur entwickelt, dem der Schulbusfahrer gern Süßigkeiten zusteckt, sondern auch zu jemandem, der sich auf Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte freuen kann. „Weil er sich dort so freundlich und angenehm verhält, bekommt er viel Lob“, sagt Editha Bochtler-Walla. Sie führt das vor allem auf die Erziehung von Anette Rännar zurück, die es schaffe, klare Regeln und Strukturen vorzugeben.
Auch ein unbegleitetes Flüchtlingskind hätten die Rännars aufgenommen. Aufgrund dieser Bereitschaft kam vor fünf Jahren Sina in die Familie. „Obwohl sie gar nicht aus dem Ausland kommt“, sagt Anette Ränner lachend. „Ich wurde angerufen und gefragt, ob wir einen sieben Wochen alten Säugling aufnehmen würden. Den würde man uns dann aber gleich am nächsten Tag bringen.“Sie hätte sich kurz mit ihrer Tochter Linnéa und ihrem Mann beraten und dann zugesagt. Natürlich kommen auch Anette Rännar und ihr Mann manchmal an ihre Grenzen. „Immer mal wieder kommen wir in die Situation, in der wir uns fragen, ob wir so weitermachen wollen“, sagt sie. Am Ende hätten sie sich aber immer dafür entschieden.