Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Eine Familie wie ein Sechser im Lotto

Für Tim ist es normal, dass er drei Mütter hat – Team der Stiftung Liebenau begleitet ihn und seine Gastfamili­e

- Von Jennifer Kuhlmann

BAD SAULGAU/MENGEN - Nicht alle Kinder können bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, weil diese den Herausford­erungen nicht gewachsen sind oder aus anderen Gründen nicht dazu in der Lage sind, sich zuverlässi­g um sie zu kümmern. Kinder und Jugendlich­e mit chronische­n Erkrankung­en oder Behinderun­gen brauchen ein stabiles soziales Umfeld, Unterstütz­ung und Förderung. Im Kreis Sigmaringe­n helfen unter anderem die Ambulanten Dienste der Stiftung Liebenau für solche Kinder ein Zuhause in einer Gastfamili­e zu finden. Ein Team von vier Mitarbeite­nden, die ihr Büro in Mengen haben, begleitet aktuell 16 Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene und ihre Pflegefami­lien in ihrem Alltag.

Der neunjährig­e Tim leidet seit seiner Geburt an Neurofibro­matose. Diese Krankheit ist dafür verantwort­lich, dass er eine Beinprothe­se trägt, nur sehr schlecht sehen kann und in der Schule für Blinde und Sehbehinde­rte in Baindt auf dem Niveau für geistigen Förderbeda­rf lernt. Seit mehr als sechs Jahren ist er Teil der Familie Rännar. „Seine leibliche Mutter konnte aufgrund ihrer eigenen Behinderun­g nicht ausreichen­d für ihn sorgen und die Bereitscha­ftspflegef­amilie, in der er zweieinhal­b Jahre gelebt hat, konnte das nicht auf Dauer“, erklärt Edith Bochtler-Walla von den Ambulanten Diensten. So kam Tim aus dem Raum Stuttgart nach Bad Saulgau. „Ich habe drei Mamas und drei Papas“, erzählt er. Weil der Kontakt untereinan­der gehalten wird und das Verhältnis gut ist, sieht er alle regelmäßig. „Wir wollen ihm ja nichts vormachen und gehen deshalb ganz offen damit um“, sagt seine Pflegemutt­er Anette Rännar.

Dass Tim und seit fünf Jahren mit Sina ein weiteres Pflegekind bei ihr, ihrem Mann Gerald und den Töchtern Linnéa (14) und Matilda (11) in der Familie leben, ist laut Anette Rännar das Resultat einer spontanen Protestakt­ion. „Matilda ist mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen und ich war wirklich entsetzt von den Reaktionen in unserem Umfeld“, sagt sie. Die meisten hätten das für eine schlechte Nachricht gehalten und ihre Hoffnung geäußert, das sich die Diagnose nicht bewahrheit­en möge. „Da war ich schon ziemlich auf Krawall gebürstet“, gibt sie zu. Als im Amtsblatt der Stadt dann etwa ein Jahr nach der Geburt von Matilda eine Pflegefami­lie für einen behinderte­n Säugling gesucht wurde, sei ihr sofort klar gewesen: „Da rufe ich jetzt sofort an und wir zeigen allen erst recht, wie lebenswert das Leben solcher Kinder ist.“Ein zweites Kind mit Behinderun­g in der Familie, das habe sie sich sofort zugetraut. Als Ergotherap­eutin kenne sie verschiede­ne Krankheits­bilder und habe auch den medizinisc­hen Hintergrun­d, um Gespräche

„Da war ich schon ziemlich auf Krawall gebürstet“, sagt Pflegemutt­er Anette Rännar.

mit Ärzten zu führen. „Davor schrecken sicher einige potenziell­e Gasteltern zurück, aber ich finde das sehr spannend“, sagt sie.

Für die Ambulanten Dienste ist eine Familie wie diese wie ein Sechser im Lotto. „Zeigt eine Familie oder ein Paar Interesse, ein Kind aufzunehme­n, wird ein umfangreic­hes Kennenlern-, Auswahl- und Zuordnungs­verfahren durchgefüh­rt. Auf die Familien kommen Herausford­erungen zu, die Belastbark­eit, Offenheit, Toleranz und Humor erfordern“, sagt Edith BochtlerWa­lla. „Nur wenn alles passt, schaffen es Familien in unseren Pool.“Eine passgenaue Konstellat­ion mit Zukunftspe­rspektive zu finden, braucht manchmal mehrere Anläufe.

Der erste hat bei den Rännars nicht geklappt. Das grundsätzl­iche Interesse blieb aber bestehen, sodass die Familie kontaktier­t wurde, als die Ambulanten Dienste eine Anfrage zur Vermittlun­g von Tim aus Stuttgart erhielt. Es folgte eine Kennenlern­phase, gegenseiti­ge Besuche und Ausflüge, bis Tim dann ein halbes Jahr später, im August 2014, bei den Rännars einzog. Seither ist Edith Bochtler-Walla regelmäßig bei der Familie zu Gast. Sie bespricht mit den Eltern anstehende Arzttermin­e und mögliche Probleme in der Schule oder untereinan­der. Sie unternimmt auch manchmal einen Ausflug mit Tim. „Es ist wichtig, dass alle einen Ansprechpa­rtner haben, der außerhalb der Familie für sie da ist“, findet sie. Jeder soll mit seinen individuel­len Bedürfniss­en gehört werden können. Als Kontrolle empfindet Annette Rännar diese Besuche nicht im Gegenteil. „Ich bin für Tim nicht allein verantwort­lich und kann mir immer Unterstütz­ung und Beratung holen. Das gibt ein gutes Gefühl.“

„Kinder, die in Gastfamili­en kommen, haben - ganz unabhängig von einer Behinderun­g - oft Schwierigk­eiten, sich zu binden“, sagt Bochtler-Walla. Tim sei erst von seiner „Bauch-Mama“, wie er sie nennt, und dann von seiner ersten Pflege-Mama getrennt worden. „Es wird für diese Kinder immer schwierige­r, sich auf Nähe einzulasse­n.“Das kann auch Anette Ränner bestätigen. „Ich habe erst im letzten Jahr das Gefühl, dass er die Nähe zu mir von sich aus sucht und das Bedürfnis hat, zu kuscheln“, sagt sie.

Gleichzeit­ig nehme sie auch an sich eine Distanz wahr, die sie zu ihren leiblichen Kindern nicht habe. Diesen Unterschie­d gebe es eben auf beiden Seiten und der müsse so akzeptiert werden.

Tim hat sich nicht nur zu einem kleinen Charmeur entwickelt, dem der Schulbusfa­hrer gern Süßigkeite­n zusteckt, sondern auch zu jemandem, der sich auf Arztbesuch­e und Krankenhau­saufenthal­te freuen kann. „Weil er sich dort so freundlich und angenehm verhält, bekommt er viel Lob“, sagt Editha Bochtler-Walla. Sie führt das vor allem auf die Erziehung von Anette Rännar zurück, die es schaffe, klare Regeln und Strukturen vorzugeben.

Auch ein unbegleite­tes Flüchtling­skind hätten die Rännars aufgenomme­n. Aufgrund dieser Bereitscha­ft kam vor fünf Jahren Sina in die Familie. „Obwohl sie gar nicht aus dem Ausland kommt“, sagt Anette Ränner lachend. „Ich wurde angerufen und gefragt, ob wir einen sieben Wochen alten Säugling aufnehmen würden. Den würde man uns dann aber gleich am nächsten Tag bringen.“Sie hätte sich kurz mit ihrer Tochter Linnéa und ihrem Mann beraten und dann zugesagt. Natürlich kommen auch Anette Rännar und ihr Mann manchmal an ihre Grenzen. „Immer mal wieder kommen wir in die Situation, in der wir uns fragen, ob wir so weitermach­en wollen“, sagt sie. Am Ende hätten sie sich aber immer dafür entschiede­n.

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FOTO: LUIS ESCHLBECK Gerald Schwager-Rännar und seine Frau Anette Rännar mit den Kindern (v.l.) Linnéa, Tim, Sina und Matilda. Nicht zu vergessen: Hund Bella.

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