Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein Mord, der die Demokratie töten sollte
Erznationale Demokratiegegner erschossen vor 100 Jahren den katholischen Politiker Matthias Erzberger im Schwarzwald – Er verkörperte für sie die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die verhasste Republik
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- Eine Haarnadelkurve im Schwarzwald, oberhalb des ehrwürdigen Kurortes Bad Griesbach. Vom Auto aus bleiben nur Sekunden, um einen vielleicht mannshohen Findlingsstein zu erkennen. Hier ist jener Ort, an dem der führende katholische Politiker Matthias Erzberger am 26. August 1921 von erznationalen Demokratiegegnern ermordet wurde. Ein Drama, das sich nun zum hundertsten Mal jährt.
Erzberger weiß seinerzeit bereits seit Längerem, dass sein Name auf rechten Todeslisten ganz oben steht. „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen“, vertraut er ein Jahr zuvor seiner Tochter Maria an. Der Hass, welcher dem auf der Schwäbischen Alb geborenen Mann entgegengebracht wurde, wird durch eine Unterschrift ins Unermessliche gesteigert: Am 11. November 1918 unterzeichnet Erzberger als Erster einer vierköpfigen deutschen Delegation den Waffenstillstand von Compiègne. Der Erste Weltkrieg ist zu Ende, Deutschland besiegt. Verbohrten Rechten gilt Erzberger damit als Volksverräter.
Solche Kreise nennen Menschen wie ihn „Novemberverbrecher“. Sie faseln von einem „Dolchstoß“, der hinterrücks das angeblich siegreiche Heer erledigt habe. Gerne wird von ihnen kolportiert, dass eine irgendwie geartete jüdische Verschwörung hinter der Niederlage stecke – ein Ansatzpunkt für den späteren Schrecken der Nazis. Selbst Erzberger mit seiner katholischen Ahnenreihe wird als jüdisch „versippt“bezeichnet.
Um die Vorgänge aber besser zu verstehen, muss man in die damalige Zeit eintauchen. Erzberger kurt in Bad Griesbach, als ihn sein Schicksal ereilt. Domizil ist das Mütterkurheim St. Anna. Seine Frau ist dabei, ebenso eine seiner zwei Töchter. Das Kurheim gibt es noch. Aus ihm ist später die Sankt-AnnaKlinik geworden. Heute steht sie leer, atmet Verfall, verschandelt den Ortseingang von Bad Griesbach. Im August 1921 herrscht aber Betrieb durch Sommerfrischler. Erzberger will sich vom Politikalltag erholen. Es geht drunter und drüber im Reich.
Die Kriegsniederlage ist erst drei Jahre her. Kaiser Wilhelm II. hat sich vor dem Waffenstillstand ins niederländische Exil abgesetzt. Alle anderen Fürsten verlieren ebenso ihre Krone. Das Ende der Monarchie. Eine Republik soll sie ersetzen. Sie muss das Erbe des Krieges antreten: ein von den Gegnern in Versailles diktierter Friedensvertrag, der das Reich unter anderem zu großen Gebietsabtretungen zwang, gigantische Reparationszahlungen und einschneidende Rüstungsbeschränkungen vorsah.
Um die harschen Vorgaben der Alliierten zu rechtfertigen, wird Deutschland zum Alleinschuldigen am Krieg erklärt. Ein moralischer Tiefschlag für das Land, glaubt man doch dort, dass einem der Waffengang von den böswilligen Nachbarn aufgezwungen worden sei. Der durch den Krieg zerrüttete Staatsetat sorgt zudem für wirtschaftliche Not. Die Reparationen an die Gegner lassen Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage utopisch erscheinen. Gleichzeitig proben rechte Freischaren und rote RäteTrupps den Bürgerkrieg, ermorden Andersdenkende. Wobei der Löwenanteil der Opfer aufs Konto der Nationalisten geht.
Jedenfalls ist vom Glanz des Kaiserreichs in der Vorkriegszeit nichts mehr übrig. All die Weltmachtsträume, die zwischen 1914 und 1918 wilde Blüten trieben, sind geplatzt. Übrigens hat auch Erzberger anfangs seine nationalen Illusionen gehabt. Deutschlands Schwert sei „so stark, dass es den Frieden diktieren“werde, glaubt er noch im August-Jubel des Kriegsbeginns.
Alles ist aber in die Binsen gegangen. Woran auch Erzberger schwer trägt. Einer der vielen, die jedoch überhaupt nicht damit zurechtkommen, ist der Marineoffizier Hermann Ehrhardt, später Drahtzieher des Mordes. Er positioniert sich nationalistisch, antisemitisch und republikfeindlich. Ehrhardt will die Diktatur, gründet ein Freikorps – in dieser wirren Nachkriegszeit durchaus von oben gefördert.
Denn selbst Vertreter der Republik glaubten, solche Freiwilligeneinheiten im Kampf gegen einen gefürchteten bolschewistischen Umsturz sowie im Ringen um die Ostgrenzen zu benötigen. 1920 putscht Ehrhardt dann in Berlin gegen die Reichsregierung – erfolglos. Einem Haftbefehl entzieht er sich durch die Flucht nach München, dem zentralen Tummelplatz aller Rechtsverwirrten – inklusive Adolf Hitler.
In Bayerns Landeshauptstadt gründet Ehrhardt die Geheimorganisation Consul, eine mehrere Tausend Mann starke Truppe für Terror und politischen Mord. Wobei sie ganz so geheim nicht ist. Die Reichsregierung der Republik sowie die neue Armee, die Reichswehr, dulden die Umtriebe. Ihre Überlegung: Vielleicht lassen sich mit Gruppen wie Consul die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrags umgehen. Consul selbst meint dagegen: weg mit der Republik. Als erstes prominentes Opfer wird Erzberger erwählt. Rechte Hetze verunglimpft ihn als „größten Lump“im Land.
Wobei sein Aufstieg zur obersten Hassfigur der Erznationalisten keineswegs programmiert gewesen ist. Das Elternhaus steht in Buttenhausen bei Münsingen, heutzutage ein Museum zum Gedenken an ihn. 1875 erblickt er das Licht der Welt. Der Vater ist Schneider und Postbote. Erzberger junior wird Lehrer, dann Redakteur einer katholischen Zeitung. Er arbeitet sich an der damals sozialrevolutionär daherkommenden SPD ab. Sie sei ein gottloser Haufen.
Es folgt der Beitritt zum Zentrum, einer katholischen Sammlungspartei, aus der nach 1945 CDU und CSU hervorgegangen sind. 1903 wird er für den Wahlkreis Biberach, Leutkirch, Wangen und Waldsee Reichstagsabgeordneter. Seine Affinität zu Medien macht ihn zu einem der ersten Politiker, die virtuos auf dem Klavier der Öffentlichkeit spielen. Er möchte den Parlamentarismus im Reich stärken und bringt selbst den Kaiser gegen sich auf.
Ebenso ist Erzberger ein Kind seiner Zeit. So attackiert er zwar korrupte Auswüchse der deutschen Kolonialpolitik, befürwortet aber das Kolonialisieren, das wiederum das Missionieren zulasse. Er fordert Rechte für Eingeborene, verteidigt jedoch den Vernichtungsfeldzug gegen die Herero in Deutsch-Südwest 1905, dem heutigen Namibia.
Mit seinen Annexionswünschen steht Erzberger zu Beginn des Ersten Weltkriegs „Seit an Seit“selbst mit extrem Rechten. Dann kommt die Wende. Erzberger soll auf Anregung der Kaiserlichen Marine fürs neutrale Ausland ein zentrales Propagandabüro aufbauen. Seine Konstruktion befindet sich rasch zwischen Beeinflussung fremder Öffentlichkeit und Spionage. Er selber bekommt zudem noch Zugang in interne Regierungszirkel – und lernt viel über geostrategische Gegebenheiten. 1916, im Jahr der Schlacht von Verdun, ist ihm klar: Deutschland kann den Krieg nicht mehr gewinnen. Höchstens ein Patt ist drin. In der Schlacht sterben mindestens 300 000 Soldaten, weitere 400 000 werden verletzt. Trotz auswegloser Lage und keinerlei Geländegewinnen zwingt die Heeresleitung immer neue Bataillone in den Kugelhagel.
Wobei Erzberger nicht der Erste mit dieser Erleuchtung ist. Andere sind bereits vorher so weit – sinnigerweise sogar der Oberverantwortliche des Gemetzels von Verdun. Generalstabschef Erich von Falkenhayn. Er hat schon im Spätherbst 1914, als der schnelle Sieg über Frankreich gescheitert ist, attestiert: Wegen der materiellen und personellen Überlegenheit der gegnerischen Koalition drohe nun eine langsame Erschöpfung Deutschlands. Nur durch einen Verhandlungsfrieden ließe sich die Niederlage abwenden. Seine Schlacht bei Verdun sollte die Westmächte zu Gesprächen animieren.
Falkenhayn verliert, muss gehen. Die bösen Geister der künftigen deutschen Kriegsführung ergreifen das Ruder des Reiches: Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Galionsfigur und sein Stabschef Erich Ludendorff als Strippenzieher. Ihre Idee: der unbedingte Endsieg. Erst scheitert jedoch der von ihnen propagierte uneingeschränkte U-Boot-Krieg, der die Versenkung von Handels- und Passagierschiffen ohne Warnung vorsieht. Katastrophaler noch: Das U-Boot-Konzept treibt die USA auf Seite der deutschen Gegner. Indes kann Erzberger 1917 der militärischen Führung das Übertreiben der Versenkungszahlen nachweisen. Deren Reaktion: Dies sei „Hochverrat“. Rechte Blätter fordern das Lynchen des Enthüllers.
Erzberger wird wiederum im selben Jahr Initiator der Friedensresolution des Reichstags. Sie verpufft unter anderem, weil Hindenburg und Ludendorff nichts davon halten. 1918 besiegelt deren Strategie schließlich den Untergang des Kaiserreichs. Der Stabschef will mit einer Frühjahrsoffensive in Richtung Paris doch noch den Sieg erringen. Sie ist anfangs erfolgreich, verbraucht aber die letzten deutschen Truppenreserven. Verstärkt durch US-Truppen treten Franzosen und Briten zum Gegenschlag an. Sie drängen Deutschlands Heer zurück. Fürs Reich wird die Lage prekär. Am 29. September fordert Ludendorff ein Waffenstillstandsangebot.
Unterstützt von Hindenburg möchte er auch eine weitere Parlamentarisierung des Reiches – nicht, weil die beiden plötzlich demokratische Regungen verspüren. Vor seinen Offizieren enthüllt Ludendorff, worum es geht: „Ich habe aber Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind.“Gemeint sind damit jene Parteien, die schon früh für einen Verständigungsfrieden eingetreten sind. Diese Erklärung gilt als Geburtsstunde der Dolchstoßlegende. Als es dann im November um das Signieren des Waffenstillstandes geht, findet sich von den militärisch Verantwortlichen keine Spur. Zivilist Erzberger muss ran. Aus vaterländischem Verantwortungsgefühl macht er sich auf den Weg – und wird Sündenbock – ganz im Sinne der Obersten Heeresleitung. Erzberger ist nun Freiwild für all jene, die als Ursache der Niederlage eine Verschwörung hinter der Front sehen – zumal er später auch noch für die Annahme des Versailler Diktats wirbt. Der Zentrumsmann sieht dazu keine Alternative.
Er tritt zudem in die neue demokratische Reichsregierung ein, wird für zwei Jahre Finanzminister und Vizekanzler. Erzberger reformiert das Steuerrecht, belastet die meist republikfeindliche Oberschicht zu deren Ärger stärker. Die Hetze gegen ihn findet keine Pause mehr. Aneinandergereiht wird er Ziel von sechs Attentaten.
Am 26. Januar 1920 wäre ein Anschlag fast schon erfolgreich gewesen. Der ehemalige Fähnrich Oltwig von Hirschfeld feuert zweimal auf den Politiker. Der verließ gerade das Gerichtsgebäude in Berlin-Moabit. Eine Kugel verletzt ihn an der Schulter, die zweite prallt an der Kette seiner Taschenuhr ab. Wie so oft in der damaligen Zeit billigen rechts geprägte Richter dem Täter ehrenwerte Motive zu: einen Einsatz für die Nation. Der Ex-Fähnrich kommt mit gerade mal 18 Monaten Gefängnis davon.
Beim siebten Attentat wollen die Schergen der Organisation Consul endlich zum Erfolg kommen. Es sind die ehemaligen Marineoffiziere Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz. Den Mord bereiten sie im Gasthof Hirsch im nahen Oppenau vor, heute eher für gutbürgerliche Küche bekannt. Am Tag der Tat regnet es. Erzberger geht mit seinem Parteifreund Carl Diez bergauf spazieren. Der überlebt schwer verletzt, erinnert sich später: „Ohne im Geringsten darauf vorbereitet zu sein – auch Erzberger äußerte keinerlei Verdacht –, standen tatsächlich die beiden jungen Männer vor uns, beide gleichzeitig die Revolver auf Erzbergers Stirn und Brust gerichtet, und ehe ich mir des Vorganges bewusst wurde, waren zwei Schüsse gefallen.“Es wird weiter geschossen. Am Schluss feuert Schulz noch zweimal in Erzbergers Kopf.
Nach der Verbreitung der Mordnachricht feiern Nationalisten. „Nun danket alle Gott für diesen braven Mord“, soll eine Gesangeszeile geheißen haben. Indes flüchten die Täter ins Ausland, die Justiz ist ihnen auf der Spur. 1933 fallen sie jedoch unter eine Amnestie der Nazis. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kommt das Duo vor Gericht. Aber bloß der Druck französischer Besatzungsbehörden führt zu einer Verurteilung: 1947 soll Tillessen laut Konstanzer Landgericht 15 Jahre hinter Gittern. Für Schulz lautet der Spruch des Offenburger Landgerichts 1950 zwölf Jahre. Sie sind aber 1952 bereits wieder frei.
Erzbergers Weg endet in Biberach, seiner Wirkungsstätte als Reichstagsabgeordneter. Unter großer Anteilnahme einer republikverbundenen Anhängerschaft wird er zu Grabe getragen. Erzberger liegt auf dem alten katholischen Friedhof. Der Gedenkstein an seiner Todesstelle im Schwarzwald steht dort seit 1951. Ein früheres Marterl hatten die Nazis wieder beseitigt. Unten in Bad Griesbach sagen Einheimische, manchmal würden noch Gäste nach dem Findling fragen – jüngst wieder etwas häufiger. Mancher fühle sich demnach an heutige Nazi-Morde erinnert, so die Mutmaßung im Ort.
„Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen.“
Matthias Erzberger