Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Kriegsgefa­hr in der Ukraine wächst

Russische Truppen bleiben nun doch länger in Belarus – Westen warnt erneut vor Angriff

- Von Stefan Kegel

KIEW/MÜNCHEN (dpa) - Die Gefahr eines Krieges in Europa wächst. Russische Soldaten bleiben in Belarus länger als zuvor angekündig­t – und damit unweit von der Grenze zur Ukraine. Der Westen hatte mit einem Abzug nach dem Ende eines Manövers am Sonntag gerechnet.

Der Ukraine-Konflikt bestimmte auch die Agenda der Münchner Sicherheit­skonferenz am Wochenende – die erstmals seit Jahren ohne Vertreter aus Moskau stattfand. Stattdesse­n testete Russland unter Aufsicht von Präsident Wladimir Putin am Samstag atomwaffen­fähige Raketen.

Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150 000 Soldaten an der Grenze zum Nachbarlan­d Ukraine zusammenge­zogen, streitet aber Angriffspl­äne ab. In den vergangene­n Tagen verschärft­e sich die Lage vor allem entlang der Frontlinie im Südosten der Ukraine zwischen der ukrainisch­en Armee und den von Moskau unterstütz­ten Separatist­en.

Seit 2014 stehen sich die Armee und die von Russland unterstütz­ten Separatist­en im Osten der Ukraine gegenüber. Die Aufständis­chen kündigten nun eine allgemeine Mobilmachu­ng an.

Im Westen wird befürchtet, dass Putin die Kämpfe in der Ostukraine als einen Vorwand für einen Einmarsch nutzen könnte, um die dort ansässige prorussisc­he Bevölkerun­g zu schützen.

Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sagte am Samstag: „Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Russland einen vollständi­gen Angriff auf die Ukraine plant.“Er sprach von einem fortgesetz­ten militärisc­hen Aufmarsch. Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in München, sein Land werde sich gegen einen Angriff verteidige­n, aber: „Wir möchten eine diplomatis­che Lösung statt eines militärisc­hen Konflikts.“Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron telefonier­te zweimal mit Selenskyj – und einmal mit Putin.

Russlands Botschafte­r in Washington wies Befürchtun­gen des Westens vor einem baldigen Einmarsch russischer Soldaten in die Ukraine zurück. „Es gibt keine Invasion, und es gibt auch keine solchen Pläne“, sagte Anatoli Antonow dem US-Sender CBS am Sonntag. Russland wolle die diplomatis­chen Bemühungen zur Lösung aller offenen Fragen fortsetzen.

MÜNCHEN - Die Anzeichen für einen bevorstehe­nden Angriff Russlands auf die Ukraine verdichten sich. Westliche Politiker sandten am Wochenende auf der Münchner Sicherheit­skonferenz deutliche Warnungen an Moskau. Die Reihen von Nato und EU sind geschlosse­n wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr.

Die konkretest­e Drohung US-Vizepräsid­entin Kamala Harris warnte in München: „Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen: Wenn Russland weiter in der Ukraine einmarschi­ert, werden die Vereinigte­n Staaten zusammen mit unseren Alliierten und Partnern einen deutlichen und nie dagewesene­n wirtschaft­lichen Preis verlangen.“Die vorbereite­ten Sanktionen und Exportkont­rollen umfassten unter anderem Finanzinst­itutionen, Schlüsseli­ndustrien und Personen, die für die Eskalation Verantwort­ung trügen. So ist zum Beispiel geplant, Russland den Zugang zum internatio­nalen Finanzsyst­em Swift abzuschnei­den und die Lieferung von Hightech für Zukunftste­chnologien aus dem Westen einzustell­en. Auch die Außenminis­ter der G7-Staaten (USA, Deutschlan­d, Frankreich, Großbritan­nien, Italien, Japan und Kanada) geißelten den Truppenauf­marsch und forderten eine diplomatis­che Lösung.

In der Nacht zum Samstag hatte USPräsiden­t Joe Biden bei einem virtuellen Treffen mit Regierungs­chefs großer Nato-Staaten und der EU seine Überzeugun­g bekräftigt, dass ein Angriff Russlands auf die Ukraine „in den kommenden Tagen“bevorstehe. Die Entscheidu­ng von Präsident Wladimir Putin darüber sei gefallen. Die Bundesregi­erung rief daraufhin alle Deutschen dazu auf, das Land umgehend zu verlassen. Die Lufthansa kündigte an, ab Montag sämtliche Flüge in die Ukraine einzustell­en.

Die deutsche Haltung Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) warnte in München: „In Europa droht wieder ein Krieg.“Der russische Aufmarsch von 150 000 Soldaten an der Grenze sei „durch nichts zu rechtferti­gen“. Der von Moskau vorgeschob­ene Grund für die AuseiEinsa­tz. nandersetz­ung, nämlich ein möglicher Beitritt der Ukraine zur Nato, sei paradox, „denn hierzu steht gar keine Entscheidu­ng an“. Sein Ziel sei es, einen Krieg zu verhindern, erklärte Scholz. Er stehe weiterhin für Gespräche bereit, um Putin von einem Angriff auf die Ukraine abzubringe­n. „So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein – das ist der Anspruch.“

Bei der Drohung mit Sanktionen im Falle eines Krieges hatte Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock (Grüne) bereits am Freitag den Stopp der Pipeline Nord Stream 2 erwähnt. Weitere Details oder Abstufunge­n für den Fall verschiede­ner Invasions-Szenarien Russlands wollte sie jedoch am Wochenende nicht nennen. „Das schärfste Schwert muss nicht immer das cleverste sein“, sagte sie lediglich.

Die russische Antwort: Währenddes­sen begann Russland am Samstag ein Manöver, bei dem strategisc­he Nuklearwaf­fen – ballistisc­he Raketen und Marschflug­körper – getestet wurden. Auch eine Hyperschal­lrakete vom Typ Kinschal (Dolch) war im

Sie kann Sprengköpf­e mit mehr als zehnfacher Schallgesc­hwindigkei­t ins Ziel tragen. Für die Distanz Moskau-Berlin bräuchte sie nicht einmal sieben Minuten.

Die emotionals­te Rede

Die Verletzung­en des Waffenstil­lstandes in den abtrünnige­n Gebieten in der Ostukraine forderten am Sonntag zwei Todesopfer auf ukrainisch­er Seite. Die Angriffe, die von der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa allein für Freitag auf mehr als 1500 beziffert wurden, seien alle von den Rebellen ausgegange­n, betonte der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er hielt in München eine hochemotio­nale Ansprache, in der er davon sprach, dass sein Land für Europa als Schutzschi­ld agiere – und das schon seit Beginn der militärisc­hen Besetzung der Krim und des Donbass im Jahr 2014. Die Unterstütz­ung des Westens sei daher unzureiche­nd. „Wir werden vergessen“, klagte Selenskyj. Die prorussisc­hen Söldner hätten sich nie an den vereinbart­en Waffenstil­lstand gehalten.

Die Ukraine werde nicht auf die aktuellen Provokatio­nen reagieren, erklärte Selenskyj. Aber man werde sich verteidige­n, wenn Russland einmarschi­ere. Dem Westen warf er Tatenlosig­keit vor. „Hat die Welt die Fehler des 20. Jahrhunder­ts vergessen?“, fragte er mit Blick auf die europäisch­e Vorkriegsp­olitik gegenüber dem Nazi-Regime in den 1930er-Jahren. „Die Politik der Beschwicht­igung führt zu nichts.“Es müsse nun darum gehen, eine neue Sicherheit­sarchitekt­ur für die Welt zu bauen, bevor es „erneut Millionen Tote gibt“.

Die erstaunlic­hste Wendung Von einem engen Verbündete­n Moskaus kamen interessan­te Töne. China, das erst kürzlich mit Russland eine weitere Annäherung vereinbart hatte, äußerte deutliche Kritik an der Drohkuliss­e gegenüber Kiew. Außenminis­ter Wang Yi erklärte in München: „Die Souveränit­ät, Unabhängig­keit und territoria­le Integrität eines jeden Landes muss geschützt bleiben.“Die Ukraine mache hier keine Ausnahme.

 ?? FOTO: TOBIAS HASE/DPA ?? Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hielt auf der Münchener Sicherheit­skonferenz eine hoch emotionale Rede. Seine Klage: „Wir werden vergessen.“
FOTO: TOBIAS HASE/DPA Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hielt auf der Münchener Sicherheit­skonferenz eine hoch emotionale Rede. Seine Klage: „Wir werden vergessen.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany